Fußball, WM und irgendwie doch Yoga
Ja, ne, also Fußball! Mit Fußball fange ich überhaupt nichts an. Da gibt es doch wirklich schönere Beschäftigungen, mit denen ich die Zeit „rum“ bekomme. Es ist mir vollkommen schleierhaft, woher das Fußball-Fieber kommt – und warum gefühlt 97,8 Prozent der Bevölkerung vor der Flimmerkiste sitzen?! Es gibt so viele spannende Sportarten, warum ausgerechnet Fußball?
Zweiundzwanzig Männer streiten sich um einen Ball. Und jeder einzelne bekommt dafür Geld in schwindelerregender Höhe. Zahlen, die von mir überhaupt nicht erfassbar sind – für ein bisschen Fassbarkeit rechne ich dann die Unsummen in kleinere Portionen um, die dann immer noch riesengroß sind. Danach werden die Beträge umgelegt. Meine eigene Währungseinheit sind Urlaube, Yogaworkshops und der Benzintank. Aber selbst, wenn ich nur an mich denken würde, und meine Bedürfnisse im Kopf alle befriedigt habe, bleiben immer noch Hundertschaften von diesen „kleinen“ Portionen für sinnvolle Ausgaben übrig. Fußball ist ja nun wirklich nicht überlebensnotwendig, dafür aber Essen, Wohnraum, Bildungseinrichtungen, ein Normalsold im Pflegedienst und und und. Fußball ist unnötig wie ein Kropf, würde ich gerne behaupten.
Und dann ist es 2006 passiert: notgedrungen, da relativ neu im Unternehmen dabei, musste ich die damalige Fußball-WM mit angucken. Mir grauste. Die schönen Abende mit meiner eigenen Gesellschaft waren dahin. Ich kannte die Fußball-Regeln nicht, die Spieler-Klamotten waren in einem von mir nicht abgenommenen Design, die biergeschwängerte Luft erinnerte mich an Kleinbürgertum, das Gegröhle und Gehupe auf den Straßen nervte mich, und das Fahnengeschwenke war mir zu deutsch. Wie kann man seine Landesfahne schwenken, wenn erstens der Torsieg in der Regel mehr Glückssache als Geschick ist und zweitens man doch nicht mehr dazu beigetragen hat als zuzuschauen? Zu guter Letzt: ich eigne mich nicht als Gruppentier. Stehen mir nicht genug Fluchtmöglichkeiten offen, fühle ich mich nicht frei. Schon in der Schule mochte ich die Cliquen-Bildung nicht, ich war auch immer zu klein und hatte ein zu schlechtes Gehör, um den Lästereien zu folgen. Manchmal hatte ich Glück und durfte bei einer Gruppe dabei sein, manchmal auch nicht. Und ein mangelndes Freiheitsgefühl manifestierte sich so richtig in mir, als man sich in jungen Jahren zu Fahrgemeinschaften zusammengerottet hatte, um zum Beispiel in der Disco „Roxy“ bei der Themennacht „Wave“ dabei gewesen zu sein. Mitten unter der Woche! Der Gedanke an das Aufstehen am nächsten Tag trieb mich dermaßen um, dass von Genuss nicht die Rede sein konnte. Aber mitgefangen ist mitgehangen. Auch bis heute muss bei mir die Not sehr groß sein, um bei anderen Menschen zu übernachten. Wahrscheinlich würde ich mich sogar mühelos den Gegebenheiten anpassen – aber allein der Gedanke es zu müssen, lässt mich beinahe ersticken.
Die WM 2006 fand zu meinem Verdruss auch noch in Deutschland statt: noch mehr Gegröhle, noch mehr Fahnen. Meine damalige Kollegin zwang mich, im Pulk mitzuschauen. Und dann geschah es nach ein paar Minuten: Ich war im Fußball-Fieber! Ich schlitterte an Beinahe-Herzinfarkten vorbei, wenn der favorisierten Mannschaft der Ball abgenommen wurde. Ich war assimiliert. Und nach ein paar wenigen angeschauten Spielen staunte ich auch nicht schlecht über das Gemeinschaftsgefühl auf der Straße. Alle Nationen freuten sich. Das war also der Fußball? Es ging um das Gemeinschaftsgefühl und die Freude – gar nicht so sehr darum, wer gegen wen oder wer gewinnt? Man gönnte sich gegenseitig Siege und alle hatten sich in den Armen. Zumindest waren das meine Beobachtungen. Steckte ich in einer Blase? Nichts Negatives durchkreuzte mein Sichtfeld. Verlierer wurden zu Gewinnern, weil es mit Freude einher ging. So kannte ich Sport bis jetzt nicht. Schaffte jetzt etwa der Fußball, was ich von der Politik erwartete, was ich von jedem einzelnen Mitmenschen erwartete? Mehr Gemeinschaftssinn! Nicht gegeneinander sondern miteinander! Der Fußball leistet mehr für Völkerverständigung als Politik – zu dieser Einschätzung musste ich unweigerlich kommen.
Bleibt noch das Fahnen-Geschwenke. Nationalstolz? Oder einfach nur Freude? Ich tue mir schwer. Nichts ist schöner und ansteckender als gelebte Freude, und davon darf es ruhig mehr geben. Es gibt Länder, die voller Inbrunst ihren Nationalstolz kundtun. Deutschland trat bescheiden auf und legte erst in den letzten Jahren zu. Unsere Geschichte verlangte nichts anderes, und als guter Gastgeber und aus der Geschichte gelernt, durfte man ja schon wieder „Flagge bekennen“. Persönlich ist mir der bescheidene Auftritt lieber, und wenn man sich miteinander und für alle freut. Stolz auf sein Land zu sein, ist mir komplett fremd. Landesgrenzen sind künstlich erschaffene Barrieren, um überhaupt gegeneinander sein zu können und politisch wie auch wirtschaftlich Unterschiede schüren. Lobbystarke und mir befremdliche Industriebranchen müssen sich weiterhin behaupten können, wie zum Beispiel die Waffenindustrie. Es ist reine Glückssache, wo und in welche Zeit man reingeboren wird und welche Voraussetzungen einem geboten werden.
Allerdings schätze ich es sehr, dass ich ausgerechnet in unserem Land in unserer Zeit lebe. Wenn ich so meinen Einkaufswagen an den bunt getürmten Obst- und Gemüseabteilungen in Supermärkten vorbeischiebe und diesen Reichtum sehe, kann ich mein Glück kaum fassen. Und das ist nur einer von vielen Punkten. Eine warme Dusche am Morgen zu genießen, abends mich in ein Bett zu legen – und ich habe eine Stimme, die ich für Gerechtigkeit erheben darf. Das ist alles nicht selbstverständlich. Und trotzdem schätze ich nun mal genau diese deutsche Bescheidenheit von vor ein paar Jahren und dass bei uns reflektiert und diskutiert wird. Nein, der Lebensfreude, die einen nach einem Tor übermannt, will ich nicht den Garaus machen. Genauso wenig auf immer und ewig das Büßerhemd überziehen. Aber auf immer und ewig möchte ich, dass wir aus der Geschichte, die eigentlich nur einen Wimpernschlag zurück liegt, lernen, und sie uns immer wieder ins Bewusstsein holen. Immer wieder höre ich, wir waren es nicht, sondern zwei Generationen vor uns. Aber wäre es nicht damals passiert, vielleicht dann heute? Wir haben die Chance bekommen, es nicht wieder so weit kommen zu lassen. Das ist das einzig kleine Geschenk, was sich zwischen all den Grausamkeiten auftut. Ein offenes, liebevolles Herz bedarf mehr Arbeit, der Hass fliegt widerstandlos uns zu und braucht keine Anstrengung. Er wächst und gedeiht, Liebe muss kultiviert werden. Miteinander und nicht gegeneinader!
Und weil ich jetzt aber doch wieder so viele Fahnen auf Balkonen und an Autos sehe: sehr oft nicht nur eine Nation, die da weht. Bei so vielen Misch-Freundschaften und Misch-Ehen weht mindestens immer ein zweites Fähnchen im Wind. Wie schön! Wir haben es geschafft, uns miteiander zu verbinden.
Sich zu verbinden, mit sich selbst, mit der Gemeinschaft, mit dem Bewusstsein, das wird dann auch Yoga genannt! We are all connected!