Wer heilt, hat recht
Aufgewachsen bin ich in einem Zeitalter als Telex-Botschaften auf einem Lochband wie Morsezeichen erschienen, das Internet musste noch erfunden werden. E-Mails, SMSe, WhatsAppe, Mobiltelefone, Suchmaschinen gab es nicht. Selbst ergoogeltes Wissen zu Krankheiten – Fehlanzeige! Dafür stand in fast jedem Haushalt ein dicker Wälzer „Enzyklopädie der Krankheiten“. Die Vielfalt an Krankheiten faszinierte Klein und Groß – es konnte einen schon sehr hart erwischen, auch wenn der Schwarz-Weiß-Druck nur eine Ahnung davon vermittelt, für den Rest sorgte die Fantasie. Je mehr eine Krankheit einen Menschen zu zeichnen vermochte, desto attraktiver wurde sie für mich. Ich selbst hielt mich für unsterblich, und zum Kinderarzt ging man, um einen Lolli oder eine Impfung zu empfangen. Kinderlähmung wollte man in der Tat nicht – die Knochendeformationen, einhergehend mit diesen furchtbaren Schuhen, würden anders als das Fieber ein Leben lang bleiben. Zum Glück gab es die Impfungen gegen Masern, Röteln und sämtliches Gedöhns, was ein Leben lang in den Knochen hätte bleiben können. Genauso hatte ich aber auch Glück, dass meine Mutter kein Contergan während der Schwangerschaft genommen hatte. Es stand also eins zu eins für die Schulmedizin.
Die Diagnose vom Arzt – unanfechtbar! Der Arzt hatte das Wissens-Monopol. Musste ja auch so sein: Wenn ein Satz aus aneinandergereihten Fachbegriffen besteht, die für den Normalo da draußen unverständlich blieben, muss man ja besonders schlau sein. Nachfragen konnten einen als dumm entlarven, und Google gab es noch nicht. Kein Wunder, dass einen das Gefühl überkam, ausgeliefert zu sein. Ein Lottogewinn war, wenn der Mann der Cousine zweiten Grades ein paar Semester Medizin studiert hatte. Damit hatte man wenigstens eine Jokerfrage frei. Menschen reden gerne über Krankheiten, es sind Doktorspiele für Erwachsene: Halbwissen, Gehörtes und Fantasie ergeben eine tolle Kombination. Das Gegenüber steigt immer darauf ein, und nicht selten bekommt der Klagende salbungsvolle Worte und Aufmerksamkeit zurück. Wir sprechen vom „sekundären Krankheitsgewinn“ – und gar nicht selten ist hier aber der größte Krankheitserreger zu diagnostizieren: mangelnde Zuwendung. Ist in das menschliche Gefäß nicht genügend Liebe und Aufmerksamkeit gestopft worden, kann das die Wurzel für so viele Krankheiten sein. Aber mit einem Knochenbruch – um eines der logischsten Beispiele zu nennen – geht man zuerst zum Schulmediziner. Das macht Sinn.
Die Schulmedizin, eigentlich „universitär wissenschaftliche Medizin“, gibt es noch gar nicht so lange unter diesem Namen. Medizinische Methoden basieren auf Studien, die einer Anerkennung durch den Staat bedürfen. Schon ab der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts wurde der Begriff „Schulmedizin“ abfällig benutzt – zumindest durch Homöopathen und Naturheilkundler. Hinzu kam der Hinweis, dass diese Wissenschaft „verjudet“ sei und die Rassenkunde nicht genügend mit einbeziehe. Eine Spaltung begann, die noch bis heute anhält – wenn auch in anderer Form. Wenn man Menschen partout unterscheiden will, geht es lediglich um Geschlechter und vielleicht ein paar Farbnuancen – „Rassen“ gibt es gar nicht. Ein Tierarzt kann es hingegen vom Wellensittich bis zum Elefanten zu tun haben, da liegen deutlich mehr unterschiedliche Verkleidungen über dem jeweiligen Herz.
Auch ist bis heute so ein Medizinstudium das höchste aller Dinge. Ein Superhirn ist dafür nötig, ein menschenunmöglicher Abidurchschnitt von 1,0, die Sprachen sind Griechisch und Latein – und bis heute zeichnet ein „gutes Elternhaus“ einen Medizinstudenten aus. Nur dass es heute weitaus mehr „gute Elternhäuser“ gibt. Ein früherer Medizin-Student kannte alles, was für Otto Normalverbraucher im Verborgenen bleiben oder wofür dieser sich sogar gar schämen sollte. Er konnte alle Geschlechtsteile samt möglichem Krankheitsbefall durchdeklinieren. Ein Studium war im Vergleich zu heute auch noch sehr rar, galt ja schon die Banklehre als etwas „Ordentliches“. Ärzte waren die Elite – nicht umsonst sprach man von „Göttern in weiß“. Meiner Beobachtung nach sind Ärzte heute viel nahbarer als früher – aber immer noch tolle gewiefte Menschen mit oft gutem Rat. Es menschelt bei Ärzten ziemlich! In einem Beruf, in dem es um Leben und Tod geht, werden Schichten gefahren, müssen hohe Kredite aufgenommen werden für eine Praxisausstattung, wird mehr der Zeit für Bürokratie aufgewendet als Hand am Menschen angelegt. Entscheidet man sich für eine Allgemeinpraxis auf dem Land, fristet man ein Dasein am Existenzminimum. Der hypokratische Eid, dem Menschen zu dienen, war heilig. Heute dient die Ärzteschaft mehr den Behörden als dem Patienten und wird regelrecht gegängelt vom Rechts- und Gesundheitssystem. Ein Hausarzt – hält er sich die Vorgaben der Krankenkassen – hat eine Zeit von 3 Minuten pro Patient; der Facharzt darf sich ganze 7 Minuten nehmen. Man spürt schon im Wartezimmer den Druck und das Spagat-Bemühen, doch dem Patienten etwas Gutes mitzugeben.
Ärzte vergreifen sich nicht selten selbst am Medikamentenschrank, das Wissen über den Inhalt ist ja vermeintlich gereift und der Griff schon fast notwendig. Die, die wir bewundern und die Vorbild sein sollten, sind am meisten gefährdet von Burn-out und Süchten. Bei Tierärzten ist sogar die Selbstmordrate überdurchschnittlich hoch – aber das ist ein anderes Thema. Irgendwie muss der Alltag bewältigt werden, der sich nicht mit der eigenen Vorstellung vom Heilen deckt. Es mangelt weniger an Wissen und Hilfsbereitschaft die Ärzte – es ist die Zwangsjacke des Gesundheitssystems, die über dem weißen Kittel getragen wird. Die meisten meiner Ärzte sind trotzdem sensationell toll! In der Regel frage ich aber auch erst den Arzt, wie es ihm oder ihr geht. Alle Impfungen habe ich gut überstanden, und Todesfälle im Bekanntenkreis waren bislang ausschließlich den Krankheiten selbst zuzuschreiben. Auch Praktiken, die heute vom Wissensstand komplett überholt sind, wie meine jahrzehntealten Amalgam-Füllungen, habe ich bis heute überlebt und bin überzeugt: Der Körper darf gar nicht rein sattvisch (was „rein“ bedeutet) sein, er braucht die richtige Dosis an „Dreck“, damit er überhaupt richtig arbeitet. Jederzeit lasse ich mir die Freiheit, selbst in mich reinzuhören, Arzt-Ratschläge oder Medikamente zu verweigern oder mich anderweitig noch weiter zu informieren. Diese Freiheit habe ich heute schließlich.
Da hatte ich mein ganzes Geld gespart, um während meines Studiums in meinen ersten Tauchurlaub reisen zu können. Das Geld war überwiesen und laut Reiseveranstalter war es zu knapp vor Reiseantritt, als dass ich etwas davon zurückbekommen hätte können. Mir wurde das Pfeiffersche Drüsenfieber diagnostiziert – auch noch von zwei Ärzten! Mein Hals war geschwollen wie noch nie und ich fieberte rum. Der immer wieder ausbrechende Tränenvulkan machte es nicht besser. Die Freundin vom Tauchladen holte mich in ihr Hinterzimmer, „wir machen jetzt mal was anderes“. Wir saßen auf dem Boden, und ich zog ein paar Karten mit Pflanzen darauf, die mir gefielen. Aha! Zum Glück war ich krank, wehrlos und zu schwach, ihr einen Vogel zu zeigen. Aus den so gewählten Pflanzen mischte sie aus ihren Essenzen eine Tinktur zusammen. Es waren Bachblüten – ich sollte sie drei oder vier mal am Tag nehmen und auf der Zunge zergehen lassen. Die wenigen verbleibenden Tage bis zum Abflug verordnete sie mir Bettruhe, ich solle positiv denken und etwas Orangenes oder Grünes anziehen. Was auch immer in dieser Zeit passiert ist – ich saß rechtzeitig im Flieger und schaffte sogar beim ersten Tauchgang den Druckausgleich in den Ohren. Wer heilt, hat recht.
Bis heute hege ich Zweifel an der Methode und auch an Ähnlichem. Globuli haben bei mir keine Wirkung gezeigt – aber wann immer ich sie versucht habe, waren Entzündungen, Bienenstiche etc. auch immer schon zu heftig, um eine sanfte Methode einzusetzen. Dafür ist mir bekannt, dass auch manche Schulmedizin-Gänger auf Globuli schwören, und sie bei ihnen wirken. Der Katalog an Alternativmedizin ist auch umfangreich: vom Sternegucker über den Augenscan und den Globuli-Berater bis hin zum Ayurveda-Arzt. Heilpraktiker, so durfte ich neulich lernen, ist übrigens eine ganz normale schulmedizinische Ausbildung. In etwas abgespeckter Version, aber so schwierig, dass auch gut die Hälfte der Studenten durch die Prüfung fällt. Ein Heilpraktiker ist staatlich legitimiert zu heilen, andere alternative Heilberufe nicht. Allen zugrunde liegt, dass sie nicht oder selten durch die Krankenkasse bezahlt werden. Das kann fast ein Vorteil sein, weil damit die sklavische Bindung ans Gesundheitssystem wegfällt – andererseits muss man für seine Gesundheit ganz schön viel verdienen. Leid ist, wenn man sich durch eine Krankheit und Schmerzen definiert – und so würde das Leben auch wenig Sinn machen. Aber auch mit gesetzlicher Krankenversicherung kann Gesundheit teuer werden – sind doch auch manche schulmedizinischen Untersuchungen und Leistungen trotz Zahlung hoher Beiträge kostenpflichtig. Mein Brille musste ich privat finanzieren, Untersucheungen beim Frauenarzt, Blutbilder, der Nervenscan meines Auges – all das muss ich jährlich noch nebenbei aufbringen. Wer einmal indifferente Symptome und Schmerzen hat, erlebt auch schnell eine Odyssee durch die Ärzteschaft. Aber es lohnt sich tatsächlich, für sich den richtigen Arzt zu finden, selbst wenn es Jahre dauert. Den alternativen Heilmethoden ist zuzugestehen, dass der Heiler nicht einfach den richtigen numerus clausus mitbringt, sondern Interesse am Menschen und seinem speziellen Fachgebiet. Oft beschäftigt er sich so lange damit, dass er eine Menge Selbststudium, Erfahrung und feine Antennen mitbringt.
Demgegenüber konzentriert sich die Schulmedizin – übrigens ist diese Bezeichnung von den Ausführenden dann auch irgendwann mal akzeptiert worden – meist nur auf einen einzigen Krankheitsherd ohne den restlichen Menschen, der daran hängt. Bei den meisten alternativen Heilmethoden wird der Mensch ganzheitlich gesehen. Vielleicht ist der Tumor ja auch entstanden von all dem Stress und dem Ärger – und nachdem die krankhafte Zellwucherung schulmedizinisch entfernt wurde, gilt es dann, die nächste zu vermeiden. Krankheit ist oft ein Lehrmeister, und machen gelingt es, sie auch als Kamerad anzusehen – nicht mehr gegen sie zu kämpfen, sondern Seite an Seite mit ihr zu gehen. Dem sind vermutlich aber viele Verzweiflungs- oder gar Wutanfälle vorangegangen. Bei Schwerkranken ist der Weg der des Loslassens – nicht nochmals eine Chemotherapie anzusetzen, um das Leben zu verlängern, sondern der verbleibenden Zeit mehr Leben zu geben. Da kann die Schulmedizin nicht mehr viel beitragen, auch wenn man diese Zeit ab einem gewissen Grad nur noch mit hochdosierten Schmerzmitteln durchsteht. Meine Tante schenkte mir am Sterbebett ihren letzten Atemzug – vermutlich eines der kostbarsten Geschenke, die ich ja erhalten habe. Aber wir waren alle so froh, dass man einen Arzt gefunden hatte, der ihr die notwenigen Schmerztabletten verschrieb.
Oft kommt mir der Vorwurf zu Ohren, dass die Pharmaindustrie samt der Schulmedizin nur an Geld interessiert seien, „mit ihrer Chemie“. Chemie hört sich schon so an, als ob sie weit weg von der Natur wäre. Das Zusammenfügen oder Auseinanderbrechen von Stoffen erfordert großen Energieeinsatz. Diese Energien gibt es genauso in der Natur – Chemie ist Natur. Und wenn der Eisenhut oder der grüne Knollenblätterpilz in zu hoher Dosis eingenommen werden, kann auch die Natur toxisch sein. Es liegt am System, dass an selten vorkommenden Krankheiten nicht geforscht wird und dass für lohnende Medikamente Patente vergeben werden. Man braucht Tonnen an Geld, um Studien staatlich anerkennen zu lassen, und Jahre an Zeit, um Medikamente zuzulassen. Nur was wirtschaftlich lohnend ist, wird an Universitäten unterstützt. Nur große Pharmakonzerne haben das finanzielle Rückgrat, diese Leistung zu erbringen. Da fällt sicher einiges unter den Tisch, und diese Fakten machen in der Tat wütend. Ethisch gesehen hat jeder Mensch weltweit das Recht, seinen besten Zustand an Gesundheit zu bekommen und schmerzfrei zu sein.
Die Alternativmedizin bekommt allerdings auch eine sehr finanzstarke Lobby zusammen. Der Trick ist eigentlich, neutral wirkende journalistische Berichte zu streuen, die dann durch Finanzspritzen unterstützt werden. Berichte sind immer glaubhafter als Anzeigen – und oft kaufen die Lobbyisten dann eben nicht Anzeigen, sondern die Berichte. Die Verlage brauchen das Geld schließlich. Frauenmagazine eignen sich hervorragend dafür – und plötzlich findet man heftübergreifend Beschreibungen der einen oder anderen sensationellen Heilmethode. Richtig gutes Geld verdient man, wenn man zu diesen sensationellen Methoden dann auch noch Seminare, Weiterbildungen und Kurse für die Kranken, die Gesunden und die Heiler anbieten kann.
Was bleibt? Es bleibt, sich immer selbst zu beobachten und nicht selten für die Heilung vieles auszuprobieren, einen Heiler zu finden, der Zeit und Mitgefühl hat. Und die beste Medizin ist immer der Satz „nicht weinen, Kleines, wir bekommen das hin“. Er ist der Ursprung aller Heilung! Auch müssen wir uns gar nicht entscheiden, selbst wenn die Welt da draußen nach Trennung ruft: Wir können Schulmedizin und alternative Medizin hervorragend kombinieren. Gebt jedoch die Verantwortung für Eure Gesundheit nie aus der Hand! Ihr setzt den Kurs. Die eine Tablette gibt es in den wenigsten Fällen. Das Wort „Patient“ kommt von lateinisch Patientia – der Geduld!