Wo ich bin, ist es am schönsten …
… huch, ist dieser Satz tatsächlich aus mir gekommen? Hört sich das jetzt eingebildet an?
Genau dieser Satz ist aber zu meinem momentanen Mantra geworden. Meine Ausrichtung und Intention, mit der ich bereits aufstehe. Eine Ausrichtung, eine Intention birgt ja eigentlich ein Ziel in sich.
Aber ich kam zu meinem Mantra durch Scheitern, durch Orientierungs- und Ziellosigkeit – manch einer mag es sogar Versagen nennen. Sogar unter Yogis ist es geächtet, kein Ziel zu haben. Lifestyle-Coaches und Lebensverbesserer drängen regelrecht in ihren Shows und Büchern, zum Zielhaben. Ansonsten darbt die eigene Existenz nutzlos dahin. Ein erfülltes Leben ohne Ziel sei nicht möglich. Der Druck von außen, endlich ein Ziel zu finden, kann groß werden und einen in die Verzweiflung stürzen. Einfach so glücklich vor sich hin leben reicht anscheinend nicht aus. Vielleicht hat man auch nicht genug nach innen gehört, um sein Ziel klar zu erkennen.
Wenn ich auf meine Vergangenheit zurückblicke: Ja, ich hatte keinen Plan. Ich habe mich vom Leben oft treiben lassen und immer wieder schwelte in mir das schlechte Gewissen, dass ich nicht so sein darf – so ohne Ziel. Womöglich wird das noch als mangelnder Ehrgeiz ausgelegt! Tatsächlich wollte ich auch schon immer bei Bewerbungsgesprächen auf dem Bürostuhl rückwärts rausrollen, wenn die Frage kam, „wo sehen Sie sich in fünf Jahren?“.
Oft verzweifelte ich daran, nicht zu wissen, was ich wollte. Ich schämte mich. War ich faul, konnte ich jemals nütze sein? Gestaltet das Leben mich oder ich mein Leben? Bin ich zu passiv? Reicht es nicht aus, einfach einen Tag zu überleben?
Meinen Yoga-Unterricht im Lockdown tauschte ich in den letzten Wochen ein in Spaziergänge. War doch alles am Erblühen, und einen besseren Lehrmeister als die Natur zu beobachten und erleben würde ich nicht mehr so schnell bekommen. Ich erkundete Gegenden, die nicht weit von meiner Haustür entfernt waren, aber noch nie durch meine Augen gesehen wurden. Nach dem Aufstehen ergoogelte (ist ja bereits das Synonym für Suchmaschine, auch wenn ich gar keine Werbung machen will) mir ein Ausflugsziel, den passenden Wanderparkplatz – und sicher wie das Amen in der Kirche erreichte nie dieses ausgewählte Ziel. Darauf war Verlass. Ich war anfangs immer kurz davor umzukehren, einfach wieder nach Hause zu fahren (immerhin bin ich in der Lage, das immer wieder zu finden). Vielleicht war es eine Trotzreaktion, dass ich dann aber doch irgendwo anhielt. Dann werde ich es eben nicht so schön haben und das sehen, was die Internetbilder versprachen! Ich stapfte aber jedes Mal mutig los, wohlwissend, dass ich mich auch beim Laufen verirren werde. Jede Erwartungshaltung musste weichen, jedes Ziel musste ich loslassen. Das versprochene Schöne werde ich nicht erblicken können. Ich gab mich hin, und mir blieb nichts anderes übrig, als mich überraschen zu lassen. Sollte die Zornesfalte auf der Stirn weichen, musste ich jetzt mein gedachtes Ziel in Offenheit eintauschen. Und ein Fuß vor den anderen gesetzt, hätte es nicht schöner sein können. Und selbst wenn ich für eine Durststrecke neben der Autobahn her lief, bewunderte ich die Kraft der Straßenrandblumen. Ich konnte alles mit den Augen eines Neugeborenen sehen und entdecken. Niemand zuvor hatte Bilder oder Meinungen in meinen Geist injiziert. Mittlerweile freue ich mich, wenn ich meine ursprünglichen Ziele nicht erreiche – ich entdecke alles neu, bin sogar seelenruhig und habe keine Angst mehr vor dem Verlorengehen. Es wird einfach alles toll werden. Wo ich bin, ist es am schönsten!
Und ist es nicht am schönsten, gehe ich langsamer. Dann werden die kurzfristigen Ziele noch kleiner herunter gebrochen, bis ich beim einzelnen Atemzug angekommen bin. Eine Atemzug bedeutet Leben – mindestens das muss ja wohl sensationell sein!?
Meine Wanderrouten stehen symbolisch für meinen Lebensweg. Ohne Abitur wird aus mir nichts, das ist mir so eingebleut worden, ich werde keinen schönen Beruf haben und nicht genug Geld verdienen für ein emanzipiertes Leben. Da ich die Schule abbrach, musste ich wohl ein Nichts sein. Wäre es so, wären bereits Jahrzehnte verloren gewesen. Ich musste doch jetzt und für diesen Moment leben – mich auf später aufzuheben wäre wie tot sein. Und diese leeren, toten Blicke von älteren Frauen sah ich oft: im Bus, auf der Straße, aus dem Fenster guckend. Diese Langeweile und dieser Tod konnten auch jeden Augenblick eintreten! Da man aber „etwas tun muss“, machte ich eine Handwerksausbildung und ich wurde Fotolaborantin. Das stand halt eben gerade zur Verfügung und dauerte nur zwei Jahre. Mir fiel nichts Besseres ein – mein Leben musste jetzt wohl dahin sein. Aber es machte unerwartet großen Spaß, ich konnte endlich etwas erschaffen und gestalten – und verdiente sogar ein bisschen Geld. Und da ich das Gefühl hatte, nun eigenständig zu entscheiden, ohne dass mir jemand etwas aufzwang, konnte ich nun meinen Weg fortsetzten und holte meine Fachhochschulreife nach. Auf meinen Umwegen machte das Leben mich vielleicht reicher als das des Zielstrebigen. Mein Pseudo-Studium zur Werbekauffrau war jedoch ein Fehlgriff, was den Beruf anbelangte – erkannte ich doch, dass ich besser dran war, etwas selbst zu gestalten, als mich gegenüber anderen durchsetzen zu müssen. Trotzdem trat das Beiwerk zum Studium zum Hauptakteur, entwickele ich mich doch zum Lebenskünstler, ich schaffte es, das Studium und meine Wohnung zu bezahlen. Ab und zu ist es nicht das Ziel, sondern das Nebenbei, der Umweg, was einen ausmacht.
Diejenigen, die dafür gelobt wurden, auf ihrem Weg zu sein und ehrgeizig ein Ziel zu verfolgen, wollten eine Form erfüllen. Später stellte sich heraus: Es gibt studierte Landschaftsarchitekten, die jetzt am Hungertuch nagen, Veterinäre, die Schlachthöfe inspizieren müssen und damit ein System unterstützen, das jede Anstrengung für das Tierwohl im Keim ersticken lässt, Anwälte, die sich dem Hauen und Stechen in ihrer Kanzlei stellen müssen. Mir sind so viele Menschen bekannt, die ihr Ziel verfolgt haben, und nun alles andere als glücklich sind. Das war jetzt nicht der Sinn des „Traum“-berufs (viele identifizieren sich ja einfach durch ihren Beruf) – und schon gar nicht der des Lebens.
Meine besten Momente waren die Unvernünftigen: Ohne Anschlussjob mit dem letzten Geld nach Israel fliegen zu dem Tauchlehrer, in den ich mich verliebt hatte. Einer Freundin aus der Patsche helfen, obwohl es für mich selbst in einen Shclamssel manövrierte, ich darüber aber gar nicht viel nachdachte, sondern es einfach machte (das soll jetzt aber kein Freibrief zur Verschuldung sein). Glücklich war ich dann, wenn ich den Moment zelebrierte und mich ihm hingab. Moment für Moment, den ein Weg zeichnet, und rückblickend der Moment, der einen nährt, auch wenn man zum eigentlichen Zeitpunkt davon keine Ahnung hatte.
Wir können nicht glücklich sein, wenn wir eine Form erfüllen müssen, allein ein Ziel verfolgen, das in der Zukunft steht. Es kommt meistens anders als man denkt – ohne Erwartung, keine Enttäuschung! Es gibt Glück nur im Moment. Ich kann mir vornehmen, einen Berg zu besteigen – aber wenn nicht jeder Fußstapfen gemacht wird, mit Energie geladen ist und für sich schon als Ziel steht, passiert gar nichts. Wenn ich am Morgen daran denke, was ich alles zu tun habe und vielleicht sogar nicht schaffen werde, zieht es meine Mundwinkel weit nach unten. Ich breche den Weg so weit runter bis ich beim einzelnen Atemzug angekommen bin – und dieser kann immer aufs Neue spannend sein, ein Abenteuer in sich bergen und dem Leben so nah kommen.
Ziele nehmen die Freude, rechts und links vom Weg abzugehen. Vielleicht ist es genau diese Abbiegung, die einen dorthin bringt, wo man hingehört, wohin die Intuition einen leitet. Ziele rauben, im Moment zu verweilen und damit auch glücklich zu sein. Ziele können die Freiheit zum Abenteuer nehmen.
Also lasst Euch nicht verrückt machen, wenn Ihr eben gerade kein Ziel habt. Euer Leben macht Sinn – allein wenn Ihr den Moment mit Energie und Engagement erfüllt. Wenn die Sinnhaftigkeit des Lebens darin gesucht wird, zu gefallen, Anerkennung zu bekommen, ist man verloren.
Es kann ein Segen sein, verloren zu gehen und vom Weg abzukommen. Ich habe jedenfalls aufgehört, mich dafür zu schämen.
Genieße den Moment, damit Du in Zukunft eine schöne Vergangenheit hast!