Nix erlebt … schön wär’s
Man könnte mich vor einen Höhleneingang setzen in einer menschenleeren Pampa – jedes noch so kleine Wesen, das vorbei kommen würde, wäre genug Action für mich. Und was mache ich? Ich überflute all meine Sinne und packe mein Freizeitpaket zentnerschwer. Aber man muss die Feste ja feiern wie sie fallen. Mein all-you-can-celebrate-Paket ist tatsächlich schon über drei Wochen her, aber so lange brauche ich auch mindestens, um solche Erlebnisse für mich zu verarbeiten. Bei „Normalos“ geht das schneller.
Mitte Juli, gerade frisch aus Berlin zurück, hatte ich mich relativ spontan entschlossen, ins Yoga13 zu gehen. Erstaunlich, dass man bei all der Planungssicherheit und einem gefüllten Kalender sechs Monate im Voraus überhaupt noch spontan in einen Workshop hüpfen kann.
Und zugegeben, etwas skeptisch war ich auch. Das Yoga13 hatte einen indischen Guru eingeladen. Wer denkt, „Guru“ wäre nur auf Männer beschränkt, gerade mit indischen Wurzeln, der irrt. Es kam Swamini Pramananda, AMMAJI – eine Frau! Kurz zur Erklärung: einen Guru kann jeder für sich individuell ernennen – das ist das Wesen, was einen von der Dunkelheit (Gu) in das Licht (Ru – genauer genommen: Beseitigen der Dunkelheit) führt. Mit dem Begriff Guru gehe ich zugegebenermaßen etwas lax um. Einen tiefen Bodenfall mache ich vor niemanden, aber ich beleuchte jede Person und jedes Tierchen, welche Eigenschaft ich mir als Beispiel herausziehen kann. Somit gibt es für mich viele Gurus. Swami bedeutet hochgeachtet und gelehrt.
Und wie erwartet wurde erstmal jedes meiner Vorurteile erfüllt. Zuerst wurde ein handgezimmertes Podest mit viel orangefarbenem Tuch im Raum platziert und eine in orange-farbenen Saris eingehüllte Dame wurde drauf gesetzt. Über den Saris blitzte ein freundliches Gesicht heraus. Ich wartete ab: kam jetzt das typische indische Kopfwackeln? Inder nicken nicht, wenn sie Ja sagen oder zustimmen, sie schütteln auch nicht den Kopf, wenn sie „nein“ meinen, sondern sie bewegen sich zwischen der Ja- und Nein-Welt. Als Europäer bleibt man im Unklaren. Schuld an diesem Verhalten sind die Kolonialmächte. Die Inder trauten sich aus Höflichkeit nicht, ein offenes Nein zu kommunizieren. Ein Kopfwackeln hielt einfach alle Optionen offen.
Ammaji wackelte nicht mit dem Kopf, sie kam ganz und gar nicht aus einer anderen Welt, sondern holte uns da ab, wo wir uns befanden. Sie hatte Antworten auf Fragen, die jeder, egal auf welchem Erdfleck, stellt. Und das große Thema war die „Bedingungslose Liebe“. Von Kindheit auf kennen wir doch den Satz: „Wenn Du nicht Dein Zimmer aufräumst, setzt es was“. Wir kennen vielleicht auch – vielleicht auch nur vom Hörensagen – , dass wir von unserem Partner abverlangen, er/sie solle endlich abnehmen, den Keller aufräumen oder kein Geld für nicht nachvollziehbare Hobbys auszugeben. Bedingungslose Liebe ist aber nicht an Konditionen geknüpft. Und das Wort „bedingungslos“ wird auch überflüssig, weil Liebe IMMER bedingungslos ist.
Und noch einen Schritt weiter: erwarten wir von unserer Außenwelt und von unserem Partner überhaupt Liebe? Unsere Erwartungshaltung wird von uns gesetzt, und nur wir selbst können sie erfüllen. Nur wir sind unseres eigenen Glückes Schmied! Wenn ich das Problem bin, bin ich auch die Lösung. Jeder ist das, wonach er sucht. Sind wir bis zum Rand gefüllt mit Liebe, können wir auch unermesslich viel davon geben. Geben und Lieben sind siamesische Zwillinge. Klar freue ich mich über ein „Dankeschön“, ein Lächeln, wenn ich das Gefühl hatte, mir wurde die Aufgabe des Gebens zuteil. Aber Geben ist auch nicht an Konditionen geknüpft. Habe ich das Gefühl, man schuldet mir im Gegenzug etwas, wird mir ja etwas genommen. Das Geben basiert auf einer freiwilligen Basis. Wenn wir geben, dann ohne Ego. Das Ego hängt sich wie ein Mühlenstein um unseren Hals und zieht uns ins Bodenlose. Wachstum ist mit diesem Gewicht nicht möglich, ein Leben in Freiheit auch nicht. Das Ego schleicht sich hinterhältig an und stülpt uns hinterrücks eine Rolle über, in der wir funktionieren. Und ehe wir uns versehen, füllen wir diese Rolle aus: Mutter, Ehefrau, Marketingleiterin etc. Aber ziehen wir die Rolle aus wie einen Taucheranzug, sind wir doch trotzdem noch da! Nur eben in pur.
Auch Erwartungshaltungen sind Rollenspiel in unserer Traum-Manufaktur. Da malen wir uns doch aus, wie schön es wäre, wenn …. Die Wirklichkeit stimmt selten mit unseren Traumblasen überein. Wir erwarten, und limitieren uns damit selber. Es war nichts als reine Spekulation. Vergangenheit und Zukunft sind demnach konditional. Haben wir schon mal notiert, wieviel Zeit am Tag verloren ging, in der Vergangenheit abzuhängen oder zu überlegen, was in Zukunft alles passieren könnte, um die Risiken abzuschätzen? Man spricht von monkey mind. Wir schwingen gedanklich vor und zurück. Von Ast zu Ast. Dabei ist nur das Jetzt wirklich brauchbar.
Als weiteres Gepäckstück meldete sich spontan eine Freundin, die noch eine Theaterkarte übrig hatte. Das Stück war mir egal, ich freute mich so sehr, sie zu sehen – wir hatten ein Stück gemeinsame Wegstrecke zurückgelegt. Zur gleichen Zeit mit den falschen Männern verbandelt mit dem gleichen Herzleiden. Uns mit rot geweinten Augen begegnet und uns in den Armen gelegen. Das verbindet! Beide haben wir aus diesem Bann herausgefunden, und wo wir unser eigenes Glück in die Hand genommen haben, da ist jeder von uns der Traummann begegnet. Ich würde sagen, wir haben es uns verdient! Nun nach gut fünf Jahren lagen wir uns wieder in den Armen – diesmal mit Freudentränen! Es hat so gut getan. Allerdings hat mich das Theaterstück dann doch sehr aufgewühlt: „Emigrants“ von JES (Junges Ensemble Stuttgart). Man sollte unbedingt viel öfter ins Theater gehen! Erzählt wurde die Flucht von Deutschen nach Amerika 1849, fliehend vor Hungertod. Nach einigen Minuten des Zuschauens war ich involviert und mitten dabei auf der Schifffahrt. Ungewiss, wann man ankommt, weil teilweise Windflaute vorherrschte, die Krankheiten – so dicht zusammengepfercht – sich nicht umgehen ließen, hilflos den Schleppern ausgeliefert, unter Deck hermetisch von frischer Luft abgeschnitten – und allein das kleine bisschen Hoffnung auf ein Leben nach dem Hunger hat dieses Leid getragen. Die Parallelen zur heutigen Zeit waren überdeutlich.
Da das Leben so vielseitig ist und einem jede Menge Gepäckstücke auf der Reise angereicht werden, hatte ich in derselben Woche noch zu guter Letzt ein Highlight: das Lenny-Kravitz-Konzert auf dem Schlossplatz in Stuttgart. Monate im Voraus hatte ich die Karten hierfür erworben und bereute es zwischenzeitlich fast. Wieder hatte ich das Gefühl, an Freiheit beraubt zu werden, weil ich zu weit in die Zukunft plante. Schon wieder konnte ich über ein Wochenende nicht frei verfügen und fühlte mich beinahe versklavt. Wo war plötzlich die Kindheit geblieben, in der man in seinem Zimmer saß und sich einfach dachte, bei wem klingle ich heute und frage, ob er mit mir spielt?
Um es kurz zu machen: das Konzert samt allen Vor-Bands war das beste Konzert aller Zeiten. Und so viel ich mir in der Vergangenheit Sorgen über diesen Termin gemacht hatte, so sehr gewinne ich jetzt aus dem Erlebten. Auch das ist eine Lehre der letzten Wochen.