Die Brahmaviharas oder ein Liebesbrief
Ist es Euch schon mal passiert, dass Ihr absolut unangemessen reagiert habt? Normal wäre ja danach, dass sich der Streit so richtig entzündet. Die Echowellen, die entsandt wurden, prallen ab und nehmen Anlauf in die entgegengesetzte Richtung. Soweit habe sogar ich die Physik verstanden. Und es ist ja auch das, was wir in so einer Situation erwarten, sonst hätten wir uns ja nicht schon zuvor bis auf die Zähne bewaffnet mit Wortsalven aus der untersten Schublade. Aber was mag nur passieren, wenn die ersten Wellen nicht zurückgeworfen, sondern absorbiert werden? Und uns wider Erwarten Liebe und Verständnis entgegenschlagen? In Anbetracht so einer Wendung schmilzt doch glatt die Ritterrüstung wie Butter in der Sonne. So eine Wärme lässt im Nu alle Angespanntheit aus dem Körper entweichen und wir können uns wohlig im warmen Sand wälzen. Also, sobald unser schlechtes Gewissen oder die Scham uns verlassen hat. Haben wir verdient, dass uns mit Milde begegnet wird? Der aufgewühlte See glättet sich, wir fühlen uns angenommen. Ob wir daraus eine Lehre ziehen können, wie wir das nächste Mal vielleicht reagieren? Und heißt es nicht sogar, „sei besonders nett zu den Unfreundlichen, sie brauchen es am meisten“? Es gibt so selten diese Menschen, die besonnen reagieren, dabei brauchen wir sie so dringend! Mehr davon bitte!
Als ich neulich eine Dame mit der Eigenschaft „zickig“ versah, tat es mir danach prompt leid. War ausgerechnet ich in der Position, das behaupten zu dürfen? War ich denn weniger zickig?
Warum gibt es Zicken – weibliche wie männliche gleichermaßen? Vermutlich liegt die Antwort mal wieder in der Kindheit. Nichts als Unsicherheit! Ein unbewusstes „Wie weit darf ich gehen“, „Wo sind meine Grenzen“, „Hier! Wink! Ich! Aufmerksamkeit!“ Haben zickige oder laute Menschen nicht die Portion Liebe bekommen, die ihnen Sicherheit und Geborgenheit vermittelt hätte? Gelang dem Bruder oder der Schwester alles mühelos und selbst investierte man für die gleiche Zielerreichung so viel mehr, hinkte aber hinterher? Der elterliche Lobgesang kam nur einem zu Gute, ein „Hab Geduld, irgendwann gelingt es Dir auch“ konnte nicht wirklich Trost spenden. Auch ein Nacheifern des Klassenbesten war nicht von Erfolg gekrönt – das Kind war schon in den Brunnen gefallen – und was man auch tat, der Lehrer beachtete einen nicht mehr. Viele Konkurrenzsituationen, denen man als junger Mensch nicht standhalten konnte, haben Narben eingraviert. Gewohnte Bahnen, in denen wir nun weiter funktionieren – Samskara auf Sanskrit genannt!
Erst wenn wir einen Menschen in unserem Leben antreffen, der nicht mit gleicher Münze zurückzahlt, können wir allmählich entspannen. Und es muss gar nicht zwingend ein anderer Mensch auftreten, wir können uns auch selbst von der Wurzel auf neu gestalten und transfomieren. Eine zweite Person im Leben ist jedoch definitiv der einfacherere Weg. Mein Ruhepol ist in Gestalt meines Mannes vor zehn Jahren in meine Leben getreten. Der beste Mann der Welt! Aus vorherigen Beziehungen gewohnte Streitmuster versandeten plötzlich. Ich durfte neu lernen. Auf einmal fühlte ich mich so geliebt wie ich war und eine große Ruhe kehrte in mir ein. Und da war sie plötzlich: die Kraft für andere Dinge. Vorher wirbelte man ja nur um die eigene Achse und hatte immer den nächstgelegenen Brand gelöscht, ist aber nie zur Quelle vorgedrungen. Relativ schnell erkannte ich dieses Riesengeschenk und dass es ein Segen war, bei der Männerwahl mal nicht auf das übliche Beuteschema zurückzugreifen. Natürlich gibt es Meinungsverschiedenheiten in unserer Beziehung: von der Mülltrennung über wie viel Waschmittel man nimmt bis zu den Hobbies. Sind solche Themen wichtig?
Die Zukunft ist sicher ungewiss, aber ich nehme jeden Tag meiner Beziehung als Geschenk an und bin unendlich dankbar. Mein Mann ist das Auge im Sturm – übrigens so ganz ohne Yoga (ein bisschen ungerecht ist das ja schon, wo ich doch Hardcore-Konsument bin und ihm alles zufliegt). Meinen Mann sehe ich nicht für mein eigenes Glücklichsein zuständig – das mache ich schon selbst. Aber das Angenommenwerden, egal was passiert, das Zueinanderhalten und das Nichtbeurteilen von gut oder schlecht, lässt sämtliche ungesunde Spuren an mir herunterrieseln. Mein Mann, Therapeut ohne Absicht! Diesen Beobachter oder Zeugen, der den Wesenskern eines Menschen sieht, unter all den Hüllen und dem Ego, nennen wir im Yoga Sakshi! Wie gesagt, der Zeuge ruht auch in uns selbst, und eigentlich wissen wir doch ganz genau, welche Angewohnheiten nicht uns selbst ausmachen.
Was ich damit sagen will: einfach mal gewohnte Muster durchbrechen und gerne im Kleinen anfangen. Wer weiß, was der Mensch, der Euch die Vorfahrt genommen hat, für ein Päckchen zu tragen hat? Oft ist es nur ein Bruchteil einer Sekunde, in dem wir einfach nicht reagieren, wie es wir es eigentlich möchten. Vielleicht fühlt es sich im ersten Moment an, als bedeute es Gewalt gegen unseren Körper. Aber nur einen kleinen Augenblick aushalten, vielleicht versandet der Ärger dann gleich wieder. Das kann die Grundlage für ein friedliches Miteinander werden. Nur eine Sekunde innehalten! Klappt bei mir nicht immer, aber immer öfter versuche ich es. Und wie bei Medizin gibt es nicht umgehend eine Wirkung, sondern der Stein muss lange geschliffen werden.
Und nicht, dass ich durch die Yogasutren von Patanjali alle durch bin, aber ich habe einen vorläufigen Favoriten, der damals wie heute verschiedene Verhaltenrezepte anreicht:
Yoga Sutra, Vers 1.33:
maitrī karuṇā mudito-pekṣāṇāṁ-sukha-duḥkha puṇya-apuṇya-viṣayāṇāṁ bhāvanātaḥ citta-prasādanam
Es werden hierbei die Brahmaviharas beschrieben – die vier himmlischen Verweilzustände.
Maitri – die Liebe und die Freundlichkeit! Reagieren wir mit Liebe, obwohl uns nicht danach ist, zahlt sich das auf jeden Fall aus. Euer Gegenüber merkt es. Und selbst wenn es nicht direkt zu Euch zurückkommt, irgendwann kommt die Zeit. Oder vielleicht bekommt es ein Dritter, und eine wunderschöne Kettenreaktion nimmt ihren Lauf
Karuna – das Mitgefühl! Nicht Mitleid, aber geäußertes Mitgefühl gibt Eurem Gegenüber einfach mal Halt und vergönnt ihm eine kleine Verschnaufspause. Er fühlt sich nicht mehr alleine gelassen.
Mudita – die Mitfreude! Ja das wäre es doch: statt Neid einfach mal auch anderen das Glück gönnen. Der Neid ist nur die eigene Giftflasche, an der man saugt. Und auch gegebene Mitfreude ist Nahrungskraft für Euch selbst.
Upekkha oder Upekksha – der Gleichmut. Naja, entpuppt sich unser Gegenüber als boshafte Person, ist es gesünder, es nicht ihm oder ihr es „heimzuzahlen“, sondern einfach Gleichmut walten lassen. Vielleicht bedarf es etwas Training, aber der Versuch ist es wert. Gleichmut ist nicht mit Gleichgültigkeit zu verwechseln!
Alles im Zusammenhang, ohne weiter auf die anderen Sanskritworte einzugehen:
Der Geist wird durch die Entwicklung von Freundlichkeit, Wohlwollen, Frohsinn und Gleichmut gegenüber Freude und Leid, Erfolg und Misserfolg klar.
Danke an den besten Mann der Welt an meiner Seite, an meinen unbeabsichtigten Therapeuten und besten Freund – Hannes – dass ich seine Qualitäten und fast vollendeten Brahmaviharas (außer beim Autofahren) als Beispiel für mich pflanzen kann. <3!