Wasser auf die Mühlen, alles dreht sich –
die Chakren

Neulich fragte mich jemand, das wievielte Chakra ich jetzt im Yoga schon durchbrochen hätte. Somit war klar, dass die Chakras auch in der Welt der Nicht-Yogis sich durchaus größerer Bekanntheit erfreuen. Selbst mache ich gerne einen Riesenbogen um das Chakra-Thema.
Das wohl neuzeitlichste Chakra-System ist übrigens von Rudolf Steiner, der die Waldorfschule ins Leben gerufen hat, wieder ausgebuddelt worden. Ich wäre ja so gerne auf die Waldorfschule gegangen – meine Eltern hingegen wollten den Anschein wahren, „normal“ zu sein, wozu dieses Schulsystem in ihren Augen nicht zählte. Schließlich könne man auf der Waldorfschule ja nicht Rechnen lernen und schon gar keine Uhrzeit ablesen. So musste ich immer neidisch auf die Bastelarbeiten und Benotungslosigkeit meiner Freundin blicken.
Da die Chakra-Systeme sich innerhalb der verschiedenen Weltanschauungen und Zeitalter auch nicht ganz einig sind, stelle ich mich dem neuzeitlichsten System. Glücklich darüber, was mir Yoga ab und zu so anreicht, bin ich jedenfalls nicht immer.
Googelt man „Chakra“, findet man tolle Skizzen mit bunten Farbklecksen entlang der Wirbelsäule. Dem Farbklecks folgen noch eine ganze Reihe an Zuordnungen: Element, Sinnesorgan, Mantra, Anzahl der Lotusblätter, Tier, Blockaden, passendes Asana, Affirmation, Eigenschaften und und und. Da wurde mal wieder die ganze Welt eingetütet. Ein „Häh?“ ist dann oft noch der freundlichste Ausruf von mir. Allein mit meiner selbstgebastelten Merkhilfe für das Herzchakra (Anahata Chakra) stehe ich schon mit einem Fuß in der Klapse: „Mein Herz bewegt sich mit beiden Händen (Tastsinn) in der Luft (Element) = Keith-Haring-Kunstwerk, schneller noch auf einer schwarzen Antilope (Tier), um den 12-blättrigen Lotus in grün (Farbe) erwachsen zu lassen, so schnell, dass ich in Rückbeuge (Asana) dahingaloppierend, meine Thymusdrüse im Wind flattern lasse und der Klang von YAM, YAM (Bija-Manatra) dabei ertönt.“ Alles klar, oder?
Und dieser Satz ist nur das Konstrukt zu einem Chakra – es gibt aber noch sechs weitere! Ja, „Nicht alle Tassen im Schrank“ trifft es wohl!
Ehrlich gesagt zweifle ich manchmal an mir, ob ich ein guter Yoga-Schüler bin. Dass der Widder zum Bauchraum und Nabelchakra gehört, leuchtet per Zufall ein. Aber das war’s dann auch schon mit schlüssigen Zusammenhängen! Und fast ertappe ich mich, auf der Seite der ewigen Nicht-Yogis und Lästerer zu stehen, sobald es um die Chakras geht.
Aber Moment! Wenn ich schon den Widder im Bauch erwähne, setzte ich doch damit ein starkes Wutgefühl gleich (eigentlich kenne ich meinen Widder nur noch aus der Erinnerung – seit ich Yoga mache, ist das gehörnte Tier immer häufiger im Tiefschlaf). Auch der Kloß im Hals dürfte den meisten bekannt vorkommen oder wenn das Herz mal wieder vor Schmerz ausläuft oder vor Liebe überquillt. Starke Gefühle – oder auch eben: Leere. Das sind alles Energien und Signale, die wir in die Außenwelt entsenden. Jeder hat sie, jeder spürt sie.
Da hatte ich doch erst vor sechs Jahren aufgehört zu rauchen (viel zu spät) und mich aus zumindest dieser Selbstversklavung befreit. Ergebnis: mein Bauch wuchs fröhlich vor sich hin und das ganz ohne Schwangerschaft. Alles normal nach dem Rauchen, sagte ich mir. Ich darf das – und das war die schönste Ausrede der Welt, den Berg Spaghetti zu vertilgen. Am besten mittags und abends. Sooo viel war es ja dann auch nicht, immerhin verkniff ich mir den direkten Zugang zu Zucker und Fetten. Ich fühlte aber nach einiger Zeit meinen Bauch einfach gar nicht mehr und unternahm auch nichts, es zu wollen. Ich guckte den Bauch nicht mehr im Spiegel an und wie ein Kind, das beim Versteckspielen die Hände vor die eigenen Augen hält und denkt, es sei weg, war dadurch mein Bauch auch nicht mehr da. Einzig die T-Shirts durften nicht zu kurz sein, und wenn der Bauch sich über dem Hosenbund zu einem faltigen Beutel formte, musste ich dann doch mit den Händen nachhelfen und das Gemenge wieder irgendwohin wegschieben. So konnte es nicht weitergehen, und so geht man auch mit sich selbst nicht um. Irgendein Artikel flog mir zu, in dem die Rede vom Solarplexus und dem Manipura-Chakra (Nabel-Chakra) war. Yoga sollte angeblich helfen. Naja, besser als Sport, dachte ich mir – auf Anstrengung hatte ich keine große Lust. Doch Yoga wurde anstrengend! Aber einige hundert Uddiyana Bandhas später, etwas Geduld und Liebe zu mir (immerhin kam mein Bauch bald in den Genuss, wieder mit Bodylotion eingecremt zu werden) kam dann auch wieder das Bauchgefühl. Meine fleißigen Organe hinter der Bauchdecke haben geduldig gewartet, um aus dieser Schreckstarre geholt zu werden, und freuen sich mittlerweile des Lebens.
Und genau darum geht es bei den Chakras (beides ist im Plural gültig: sowohl „Chakras“ als auch „Chakren“): um Energiearbeit, Reinigung und das Wieder-Fließen-Lassen. Von unten nach oben steigend. Genau das sind die ausgeschriebenen Yogastunden, die mit Kundalini-Energie arbeiten oder sich Chakra-Tuning nennen. Diese Energie kann wohl jeder spüren, dazu braucht man keine wilden, theoretischen Herleitungen. Jeder Mensch hat individuell ausgeprägte Chakren. Es heißt, von den sieben Chakren sind zwei bei jedem Menschen besonders ausgeprägt. Dies sind dann einerseits die persönlichen Stärken, andererseits aber auch die Kampffelder. Jedes Chakra entwickelt sich in einer bestimmten Lebensphase – von unten nach oben.
Das erste Chakra sitzt an der Wurzel der Wirbelsäule: das Muladhara Chakra. Es steht für Sicherheit und Vertrauen. Das Elternhaus sorgt dafür, dass dieses Chakra gut ausgebildet ist. Und wie neulich, als ich zuviele Tassen für mehr Raumersparnis im Schrank gestapelt habe, kann der Turm umkippen. Genauso ist es bei den Chakren. Sie bedingen sich einander. Und schnell weiß man, ob man „noch alle Tassen im Schrank hat“ oder ob man sich nicht um die Ausrichtung eines Chakras mal wieder besonders kümmern sollte.
Chakra bedeutet übersetzt „Rad“. Ein Rad will sich drehen, läuft rund und treibt an – wie in einem Uhrwerk. Ein Chakra ist ein Energiebereich, der ausstrahlt. Die Lebensenergie, das Prana, wird in Gang gesetzt. Und selbst wenn für uns diese Bereiche nicht spürbar sind, dann ahnen wir zumindest doch, wenn etwas nicht stimmt. Im Yoga werden sehr viele praktische Mittel angereicht, um den Fluß in Gang zu setzen und die Chakra-Leiter hochzuwandern. Da darf man auch mal über die Theorie hinwegsehen. Wer heilt, hat recht. Basta!
Das Zentrum eines Chakras bildet sich dort, wo besonders viele Energiebahnen zusammentreffen. Sie sind das Wasser auf dem Mühlrad. Neben der Sushumna-Nadi entlang der Wirbelsäule, beginnt rechts am Beckenboden die Pingala-Nadi und links die Ida-Nadi. Männliche und weibliche Energie, Ha und Tha, Sonne und Mond, anregend und entspannend. Diese zwei Nadis durchkreuzen sich in den Chakren, ein letztes Mal im Ajina Chakra (Stirnchakra) und strömen dann jeweils wieder auf ihrer Seite an der Nase aus – also Ida links und Pingala rechts. Mit diesem Wissen können wir schon zielgerichtet an uns selbst mit Pranayama (Atemtechnik) arbeiten. Eine Yogastunde ohne Pranayama hinkt einer reinen Asana-Stunde jedenfalls um Welten hinterher.
Energiearbeit ist sicherlich nicht der einfachste Weg, jede Menge Hinkelsteine können den Weg nach oben versperren. Blut, Schweiß und Tränen – aber Yoga ist auch nicht der Weg, um dort zu bleiben, wo man ist. Hier weiß ich ganz bestimmt, wovon ich rede! Fühlen und erleben geht über studieren!
Eigentlich wollte ich gerne Abstand nehmen von einer Chakra-Darstellung, genug davon wimmeln schließlich im Internet. Aber der kleine Elefant protestierte, und für die Chakren zieht er gerne blank: