Letzte Etappe: Yogalehrerausbildung – dritter Akt
Eine Yogalehrerausbildung ist gleichzeitig auch ein gutes Gedächtnistraining. Von vielen Dingen, von denen man vorher gar nicht ahnte, dass sie existieren (zumindest mit Namensnennung) gibt es mindestens drei bis unendlich viele Punkte aufzuzählen. Da wären zum Beispiel die Karmagesetze, die Energiehüllen, die Hindernisse im Leben, die Hindernisse, die von der Yogapraxis abhalten, die Chakren, die Vayus, die Kriyas – um nur ein paar zu nennen. Zu jedem aufzuzählenden Punkt gibt es dann wieder Untermenüs und weitere Verknüpfungen. Das Spinnennetz weitet sich in unendliche Dimensionen aus, und selbst ich, die Spinnen liebt, fürchtet diesem Tier in entsprechender Größe zu begegnen. Mein mikroskopisches Auge fährt aus und der Kosmos wird einmal umgedreht. Die sonst so kleinen, fleißigen Achtbeiner werden aus dieser neuen Perspektive zu Giganten, und riesige schwarze Augen blicken mich an, um zu prüfen, ob ich nun besser zerquetscht oder aufgesaugt werden soll. Vielleicht zahlt es sich spätestens jetzt für das kommende Paralleluniversum aus, dass ich meine kleinen Freunde immer entweder an Ort und Stelle lasse oder sie in einem umgestülpten Glas ab in die Natur befördere. Das alles übrigens schon lange bevor ich mich mit Karma auseinandergesetzt habe. Aber bevor ich abschweife: das Tier, das ich fürchte, bin ich wohl selbst. Das Netz habe ich selbst gewoben und die Verknüpfungen selbst hergestellt. Aber dafür steht ja der Begriff Yoga: in Verbindung bringen. In diesem Fall erworbenes Wissen auf das eigene Leben reflektieren. Wenn auch sonst die klassische Übersetzung lautet: Geist und Körper in Einklang zu bringen oder sich als Ganzes mit der Natur zu verbinden.
Mit Lernstoff waren wir also gut eingedeckt, und die Erkenntnis daraus war, dass wir immer noch an der Oberfläche schürften. Man stolpert im Yoga immer wieder über diesen einen Satz: alles Wissen liegt bereits in Dir! Den dazugehörigen weiterführenden Satz hört man nicht so laut: …. aber wehe, Du ruhst Dich aus und entwickelst Dich nicht weiter! Lerne, lerne, lerne – ohne Dich dabei selbst zu verlieren! Und wenn ich Patanajali auf meine Weise interpretiere: wir werden geboren, um das Leben in unserer Menschgestalt zu erfahren, mit all seinen Umständen, Unzulänglichkeiten und Leid (sogar beim Glück muss man zweimal hinschauen, ob es sich um das Echte handelt oder nur um eine Illusion). Ankommen wird man wieder beim Tod, um alles Wissen, Erworbene und Erfahrene loszulassen. Das Menschsein ist also ein Umweg. Aber auch mit dieser Erkenntnis dürfen wir keine Mühen scheuen, das Beste in jedem Moment zu geben.
Und so mussten auch für den praktischen Teil der Ausbildung die Hirnzellen angeworfen werden: Sequenzen aufbauen für Anfänger, Schwangere (in diesem Modul durften wir uns einen Ball unter das T-Shirt schieben und ich schwöre, ich war froh, diesen wieder loszuwerden – denn selbst wenn man „nur“ einen Ball austrägt, fühlt man sich doch unter ständiger Beobachtung), für morgens, für abends, für Menstruierende und sogar den Mondphasen entsprechend. Aber immer, wenn das nächste Level erreicht war, blieb keine Zeit mehr für die Stolpersteine des letzten Moduls. Zwischenzeitlich mussten die Sonnengrüße sitzen. Das ist dann sicher auch der Vorteil gegenüber einer Ausbildung, die vier Wochen am Stück erfolgt wäre – zwischen den Modulen konnte das Erlernte Wurzeln bilden.
Was mir dabei still, heimlich und fast unmerklich geschenkt wurde: ich vertraute immer mehr darauf, dass mir alles gelingen würde. Gegen Ende der Ausbildung hatten meine sonst so üblichen Unsicherheiten einfach keinen Platz mehr. Nur die Nervosität vor der Prüfung hat natürlich jeden „Hau-den-Lukas“ ins Weltall katapultiert und war unermesslich. Und nach der Prüfung stellte sich die Normalität wieder ein, und die eine und andere Unsicherheit kam und kommt wieder auf. Mir fiel auf, wie viele Menschen zuvor zu mir sagten, ich solle mich doch nicht so klein machen. Das Sich-klein-machen musste ich ja wohl gründlich gelernt haben. Also dachte ich darüber nach, wie ich es jetzt wieder los werde. Mich selbst als klein zu präsentieren, hatte ich definitiv nicht so gemeint. Setzte ich es unbewusst ein, um mich selbst zu überraschen? Das wäre ja eine egoistische Geste, die aussagt, nichts leisten zu müssen und den Level immer schön niedrig zu halten. Ja, besonders zielorientiert und strukturiert habe ich mich bis jetzt nicht durch mein Leben bewegt. Aber eigentlich hat es mir so bisher ganz gut gefallen – immerhin konnte ich offen sein für das, was mir zufällig begegnete und was das Leben mit mir vor hatte. Vielleicht war ich aber auch einfach schon immer im Zustand des Yogas: der Moment und das Jetzt zählen – und für einen glücklichen Moment zahle ich auch mit allem, was ich in diesem Moment geben kann. Vielleicht ist es nämlich genau dieser eine Moment im Jetzt, der einen für das Morgen nährt. Eine andere Theorie zum Hintergrund des Kleinmachens könnte auch sein, dass mir Menschen mit zu starkem Ego bisher negativ aufgefallen sind und ich für einen Ausgleich den Gegenpol setzen wollte. Das allerdings wäre nur ein kläglicher Versuch eines Lehrauftrags gewesen … und gefruchtet hat dieser ohnehin nie. Eine dritte Erklärung wäre, dass es nur so scheint, als mache ich mich klein, weil ich andere lobe. Ich lobe so gerne und finde, dass unsere Gesellschaft sehr an Lob-Armut siecht. Ein Lob verleiht anderen doch Flügel, zumindest ein gutes Gefühl. Wenn jeder aufrecht geht und seinen Platz im Leben hat, müssten Dritte nicht klein gemacht werden, um selbst wieder größer zu wirken. Also ist es doch die bessere Methode, andere groß zu machen als klein. Die eigene Größe verändert sich dadurch ja nicht. Der Unterschied ist: wenn ich anderen ein gutes Gefühl gebe, bin auch ich selbst irgendwann in der Kettenreaktion wieder dran.
In einer Episode von „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“ taucht der Scheinriese Turtur auf. Von weitem sah Turtur aus, als ob er ein riesenhaftes Ungetüm wäre, aber mit jeder Annäherung wurde er immer kleiner – bis er auf Augenhöhe menschliche Größe erreicht hatte. Die „normalen“ Menschen sind allesamt also Scheinzwerge. Vielleicht bin ich der Super-Scheinzwerg – auf den ersten Blick. Aber so manch einer musste auf den zweiten Blick erschreckt das Gegenteil feststellen.
Neun Monate Ausbildung, 300 Stunden: drei mal Haaransatzfärben, ein nie gemachter Haushalt, vier Zwangslektüren und mindestens drei freiwillige Bücher. Nebenbei mindestens 125 Yogastunden à 90 Minuten. Eine ganze Schwangerschaftsperiode also – und auch eine Yogalehrerausbildung kann gefüllt mit Leben sein. Nicht eine Sekunde war davon verschwendet.
Das Leben verändert sich, Bewusstsein durchdringt die letzte Zelle. Yoga ist allgegenwärtig und wird nicht mehr nur in den Yogaklassen praktiziert. Aber ich gebe auch zu, dass ab und zu ein bisschen Distanz ebenso hilfreich gewesen wäre. Oberflächlichkeit gibt es nach wie vor auch, nur wird diese wie folgt transzendiert: Ein Fahrt durchs Allgäu, mit der Nase an der Fensterscheibe klebend, wurden Immobilienkäufe in meinen Traumwolken getätigt. Ach, was könnte man aus dem einen oder anderen Guts- und Bauernhof an Yogaretreat entstehen lassen? Jeder Museumsbesuch inspirierte. Wie sieht wohl eine Motto-Yogastunde im Saal der blauen Phase aus? Wildfremde Menschen auf der Straße liefen Gefahr, aufgrund ihres Ganges und ihres Gesichtsausdruckes ein Visitenkärtchen vom Yogastudio zugesteckt zu bekommen. Und nachdem in jedem Buch mit spitzem Stift die wichtigsten Sätze unterstrichen wurden, lief man Gefahr, ständig nervös nach einem Stift in der Handtasche zu kramen und wenn es nur für das Frisörmagazin war, um dann erleichtert festzustellen, dass es gar nichts Wichtiges zu unterstreichen gab.
Die Prüfungsphase stand bevor. Wir zogen Lose, um die Reihenfolge für unsere praktische Sequenz festzulegen. Man bekommt vom Leben, was man braucht. Also war ich die Vorletzte. Nein, das habe ich nicht gebraucht (in diesem Falle bin ich überzeugt, dass auch mal das Leben ein Missverständnis bereit hält!). Wie sehr kann sich ein Super-Scheinzwerg nur mit Aufregung füllen? Die praktische Prüfung war ja der Part der Ausbildung, weswegen ich mich beinahe nicht für die Yogalehrerausbildung angemeldet hätte. Die Theorieprüfung zwickte zwar auch an meinem Gemüt, aber ich fand mich immerhin in der Lage, diese auch selbst verfassen zu können. Die praktische Prüfung war das Ungesündeste, was mir je im Yoga begegnet ist – ein stundenlanger Stress-Test für den Sympathikus (der Nerv, der für Flucht, Panik und Stress zuständig ist). Anscheinend biss ich so sehr meine Kiefer aufeinander, dass ich Zahnschmerzen bekam. Mein Herz fing in der Nacht vor der Prüfung an zu rasen und wollte auch am Prüfungstag nicht aufhören. Und dieser Tag war lang. Um 9.00 Uhr durfte der erste Aspirant beginnen, und ich war dann gegen 16.30 Uhr dran. Ich verbeuge mich vor meinem Herzmuskel. Aber ich überlebte … erstaunlicherweise. Ich redete mir ein, eine ganz normale Stunde zu geben, und dass ich mich freuen sollte. Und ja, spürte ich dabei auch einen Funken Spaß?!
Alle 16 hatten bestanden. Keiner hatte aufgegeben. Jeder bekam sein Lob, denn jeder von uns war über sich hinausgewachsen. Aber an dieser Stelle sei gesagt: nein, wir haben uns die Zertifikate nicht erkauft (wie es manche Stimmen so unken). Aber wenn man genau hinhörte, merkte man doch die Tendenzen, ob man eher zu den kommerziell tauglichen Lehrern gehören wird – mit Rangliste, unabhängig von Können und Wissen. Die Krux ist, dass eher sensible Menschen dazu tendieren, den Weg des Yogas zu beschreiten. Prüfungen sind mit Yoga nicht kompatibel und haben schon gar nichts mit der Beurteilung von Menschen zu tun. Yoga ist kein Wettkampf mit Siegertreppchen. Jeder ist perfekt. Aber wie soll es anders funktionieren als mit einer Prüfung? Ein Yogastudio will am Laufen gehalten werden und das ist gut so. Nur so kann Yoga schliesslich weitergegeben werden. Business und Yoga unter einen Hut zu bringen, ist eine Gratwanderung. Und vielleicht braucht es manchmal sogar mehr Einfühlungsvermögen seitens des Schülers als andersrum. Und wie es auch für den Einzelnen ausging, alles wird zum Lehrmeister.
Meine Lehrerin Natalie sagt doch gerne „Flieg nie zu hoch, … aber wenn Du eines Tages weiter in Hanumanasana (Spagat) kommst, dann kannst Du Dir schon mal die Badewanne einen Zentimeter höher mit warmen Wasser auffüllen“. Sie sagte das in Bezug auf die Siddhis, beziehungsweise Vibuddhis – aber dazu ein anderes Mal.
Am Folgetag bekamen wir in einer unvergesslich schönen Zeremonie mit Kirtan unsere Zertifikate.
Der Geruch von Erschöpfung und Schmerzgel durchzog die Räume der Yogablume. Die Erleichterung setzte zeitverzögert ein und noch etwas später das „Was-nun?“-Loch. Ein Weg endete, die nächste Weggabelung wartet. Schüler bleibt man für immer!
All meinen Lehrern, die mich in dieser Zeit begleitet haben und hoffentlich noch werden, danke ich aufs Innigste – at your lotus feet!
Guru Brahma, Guru Vishnu, Guru devo Maheshwara
Guru sakshat, param Brahma, tasmai shri guravay namah!