Down under
Das neue Jahr ist längst angebrochen. Ist es zu spät, einen fantastischen neuen Start zu wünschen? Fühlt Euch mit Rüssel vom Elefanten umarmt, geliebt und seid die gegenwärtigste Ausgabe von Euch, die Ihr sein könnt!
Selbst fällt es mir schwer, einen Cut zu machen, mit Altem genau am Jahresende abzuschließen und in ein florierendes neues Zeitalter zu marschieren mit Plänen und Vorsätzen, die mich nur unglücklich machen, weil ich sie nicht einhalten könnte. Silvester habe ich auch traditionsgemäß verschlafen. Jede Menge unverdaute und unverarbeitete Dinge habe ich ins neue Jahr geschleppt. So gerne hätte ich mich großzügigem Herzen verziehen, einen Schlussstrich gezogen und den Sack mit dem Seelen-Gerümpel einfach im alten Jahr stehen lassen. Und schon damit setze ich mich wieder unter Druck. Das schöne, reine Abbild eines Yogis bin ich einfach nicht. Mich plagen Gefühle, die ein Yogastudierender nicht haben sollte. Erst recht nicht, wenn man schon so viel Wissen eingesammeln durfte, um in herausfordernden Situationen gelassen zu bleiben und über den Dingen zu stehen. Je mehr ich um Besserung rang, desto mehr verschlimmerte sich meine Situation und umso tiefer geriet ich in den Sumpf. Das alles ausgelöst um die Yogagemeinschaft herum, in die ich glaubte, so gut reinzupassen. Ausgerechnet nach meiner Yogalehrer-Ausbildung, nach der so vieles neu beginnen sollte, wollte ich jetzt nicht mehr. Ich musste mich auf die Matte regelrecht zwingen, war mutlos und fühlte mich nicht gut genug. Das Schlimmste war: ich vermisste mein Leuchten. Zum Wiederentfachen fand sich kein Brennmaterial – weder in der Außenwelt noch in mir. Ich war nicht mehr im Zustand des Yogas, ich war getrennt und abgeschnitten. Ich war „down“ und „under“.
Man bekommt vom Leben, was man braucht. In meinem Fall Urlaub – und mal wieder ein körperliches Gebrechen! Es war anfangs nur eine Kleinigkeit: vor Urlaubsantritt fühlte ich, dass mein ISG (Iliosakralgelenk) nicht einwandfrei „eingeschnaggelt“ war und kurzfrisitg bekam ich den erhofften Termin beim Physiotherapeuten. Was weh tut, muss richtig sein. Ich feuerte den armen frisch ausgelernten Physiotherapeuten an, doch etwas fester in der Beckengegend Hand anzulegen. Es muss aber zuviel Gedrücke auf den Piriformis-Muskel gewesen sein. Natürlich wurde dieser Muskel in meiner Ausbildung besprochen und wie nah dieser am Ischias-Nerv sitzt, aber mein Körper entschied sich, mir die Theorie eindrucksvoller am leibhaftigen Körper beizubringen. Der Lerneffekt ist einfach größer!
Asanas waren vorübergehend passé und weil ich mich in den letzten Wochen so missmutig auf die Matte begab, vollbrachte die Körperintelligenz, sich über meine Disziplin zu stellen und forderte den Rückzug ein. Selbst hätte ich nicht den Bruch gewagt, einfach nichts zu tun. Nicht nur die Theorie, auch meine Erfahrung lehrten mich schließlich, dass nur Beständigkeit Wachstum mit sich bringt. Und jetzt wagte ich den Bruch. Einfach mal nichts. Ich war schließlich „down“ und „under“.
Und drei Wochen „down under“ erwarteten mich auch. Australien war der Kontinent, von dem ich immer geträumt hatte, der zwar auf der Landkarte und in Reportagen existierte, aber dass ein Besuch dort für mich einmal Wirklichkeit werden würde, wagte ich nicht zu hoffen. Mit dem besten Mann der Welt buchte ich spontan Flüge – so spontan, dass es nicht mal groß Zeit gab, eine Reiseroute zu erarbeiten, und der Jahresendtrubel im Büro forderte auch seinen Tribut. Und nun zwischen Tür und Angel sollte mein Traum in Erfüllung gehen.
Mit dem Blick aus dem Flieger suchte ich auch mein Leuchten nicht mehr und gab mich sofort der großartigen Landschaft hin. Ich sah Tiere, die ich nur aus dem Fernsehapparat kannte: Koala-Bären und Wombats sind in Wirklichkeit einfach noch so viel niedlicher, die Spinnen noch viel größer als beschrieben, Kängurus kommen auf einen zu und lassen sich anfassen, Vögel und Echsen spähten aus ihren Verstecken, Schwärme von Flughunden glitten in den Abendstunden über unsere Köpfe hinweg, und Dingos wären von normalen Haushunden optisch nicht zu unterscheiden. All meine Mädchen-Träume wurden erfüllt. Und wenn mich jemand nach meinem Traumberuf fragt, ja, ich wäre gerne die neue Jane Goodall oder der neue David Attenbourough, mindestens aber Fotograf für das GEO-Magazin. Glücklich endlich mit Mitte 40, eine Antwort zu haben auf die Frage, die mir seit Kindesbeinen an gestellt wird – aber vor eineinhalb Jahrzehnten versiegt ist. Ungefragt also gebe ich gerne hiermit die Antwort.
Und auch die üppige Pflanzenwelt begeisterte mich. Versuchte ich doch vergeblich seit einiger Zeit, Baumfarn zu Hause zu züchten. Der Baumfarn wuchs wild, hunderte Arten von Palmen, Luftwurzelgwächse, die zu horrenden Preisen in Gartenmärkten bei uns verkauft werden, wuchsen dort in bizarren Formen – größer und schöner denn je. Meine Augen schweiften durch die Eukalyptuswälder auf der Suche nach Koalas. Meine Füße fühlten feinsten Quarzsand auf den kilometerlangen Stränden, und im Wurzelwerk von Mangrovenwäldern lauerten noch mir unbekannte Tiere.
Eine neue Perspektive zeigte mir der Flug über das Great Barrier Reef. Ein Monument der Natur, ein Ökosystem ausgeklügelt bis ins kleinste Detail, aus dem Weltall erkennbar, und mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu retten. Ich durfte es noch sehen und bin vor Ehrfurcht erstarrt. Auf einmal war ich so klein, meine Probleme und Sorgen verschwindend gering – und im Gegenzug wurde ich umarmt und vereinnahmt von diesem großen Ganzen. Ich war eins mit allem und ein Teil davon.
Der Zustand des Yogas holte mich wieder ein. Während ich versuchte, Yoga zu verlassen, war Yoga treu bei mir geblieben. Getröstet, erleichtert und das Wunder der Welt nicht fassen könnend, rollten mir Tränen über die Wangen. Wie hätte ich zu Hause heilen können, wenn ich mir nicht mal einen Waldspaziergang gönnte, sondern nur hetzte zwischen Job, Yogamatte und dieser oder jener Person zu gefallen. Der Bruch, den ich so sehr gefürchtet hatte, ist mit Gold gekittet worden. Man muss nicht immer aktiv am Prozess beteiligt sein, man kann auch mal geschehen lassen. Weder gegen den Strom noch mit dem Strom muss man schwimmen – man darf aus dem Fluss aussteigen und sich auf einen sonnigen Stein legen. Auf neudeutsch heißt das „sich gehen lassen“. Mein Körper ist wieder weicher geworden, aber mein Lachen dafür wieder da.
Mein Urlaub war das erste Mal seit Schulzeiten drei Wochen lang, gefüllt mit Eindrücken, die erst zeitversetzt realisiert werden. Kein Asana-Programm, kein neunmalkluges Buch, kein Auswendiglernen von Mantras, nur Staunen. Und auch nur aus Experimentierlust und weil ich nichts zu verlieren hatte, war ich bei Ankunft und bei Abflug im Jivamukti-Studio in Sydney. Also ganze zwei Yogaklassen mit Doug Whittaker. Der Schnitt ist verschwindend gering, wenn auf meinem Alltags-Stundenplan vier bis fünf mal die Woche Yoga steht. Ich glaubte aufgrund meines Rückens nur Balasana (die Kinds-Haltung) durchführen zu können, aber gerade Balasana schmerzte, also machte ich so gut es ging alles andere mit. Doug ist ein humorvoller Lehrer, der seine Stunden fantastisch aufbaut und auch nicht der einzigartigen Peak-Pose (erst aufgerissene und staunende Augen bei Schülern sind für manche Lehrer eine Befriedigung) hinterher jagt. Es war genau das Richtige für mich – meinem unteren Rücken und der Oberschenkelmuskulatur muss ich noch etwas Geduld und Zeit zum Heilen einräumen. Wer Lust auf Doug bekommt, kann ihn im Mai in Berlin kennenlernen und vielleicht sogar mal in Stuttgart, der zweiten Yogametropole in Deutschland !!! Auf die Frage, ob Stuttgart „abgefahren“ ist, musste ich leider zugeben, dass das erst auf den zweiten Blick der Fall ist. Aber ein guter Yogi sucht ja genau das – das, was sich versteckt, unter den Hüllen verbirgt!
Ja, Australiens Städte sind definitiv abgefahren. Es scheint, jeder Freak und Jeck hat seine Nische, die er ausfüllen darf. Es macht den Eindruck, dass es gar keine Minderheiten gibt, denn selbst Minderheiten werden in kleine Gruppen gebündelt, aber ein Individuum kann man ja schlecht einschubladen. Ein tolerantes und respektvolles Miteinander-Umgehen beobachtete ich. Anfangs passte ich nicht rein, merkte ich doch, dass sich beim Kaffee-Bestellen Zeit genommen wird, um auf alle Fragen der älteren Dame vor mir einzugehen, während die Anstehschlange wuchs. Ich wollte gerade anfangen, mit den Fingern auf den Tresen zu trommeln, und wie ein Stromschlag wurde mir die Unsinnigkeit dieser Geste plötzlich bewusst. Meine Freundin und Yoga-Kollegin Kristin machte zum gleichen Zeitpunkt auch ihre Australienrundreise (wenn auch auf neiderregende fünf Wochen ausgedehnet) und wir verpassten uns leider an den wenigen Schnittpunkten – sie stellte in einem ihrer Posts jedoch fest, dass dieses Miteinander, im Einklang mit der Natur, die freundliche Begegnung und Hilfsbereitschaft der Menschen, ihr Verständnis von Yoga sei. Ja! Ich stimme mit ihr überein. Auch wenn bestimmt nicht alles so sonnig ist, wie es für einen Touristen scheint.
Offensichtlicher wurde das in kleinen Orten, meilenweit von den Metropolen abgeschnitten. Das Landleben in Australien ist nicht so romantisch wie es sich bei uns gestaltet: Berge und Wiesen wie im Allgäu, aber Internet und die Klamottenfummel-Bestellung klappt trotzdem. Es fühlt sich im australischen Outback an wie lebendig begraben. Große Entscheidungsfreiheit gibt es nicht. Welches Ernährungskonzept passt, ob man ein sprachliches oder musisches Schulsystem vorzieht, ob ich ins Kino oder ins Theater gehe. Diese Fragen stellen sich nicht. Dafür hat jeder noch so kleine Ort einen McDonalds für die frühkindliche Erziehung – noch bevor es einen Spielplatz gibt, eine Begegnungsstätte oder einen Sportverein für Jugendliche. Es gibt einfach keine Wahlmöglichkeit. Das Gefälle von Stadt zu Land hatte ich noch nie in dieser extremen Form erlebt. Das geflügelte Wort war die Kleinstadt „Kurri Kurri“ – der erste Ort, der uns belehrte, dass man nicht einfach mal so kurz vom Freeway abfahren kann, und nur weil ein Ortsname ausgeschildert ist, dort etwas zu essen bekommt. In Kurri Kurri gab es eine Art Saloon. Eine Speisekarte klapperte vor dem hölzernen Eingang im heißen Wind. Na gut, ich bin kein Pommes-Frites-Fan – aber ich hatte Hunger. Wir traten ein. Bärtige, ungepflegte Männer mit roten Nasen spielten Billiard oder ließen Flipper-Automaten klingeln. Alle Augen richteten sich auf mich und da fiel es mir ein: in Australien durften Frauen lange Zeit und wenn überhaupt nur die Separees von Pubs betreten – und das ist noch nicht einmal so lange her. Im Saloon von Kurri Kurri schien die Botschaft, dass ein neues Zeitalter hereingebrochen war, noch nicht angekommen zu sein. Wo war nur mein Revolver am Halfter befestigt? Rechts oder links? Um Zeit zum Überlegen zu schinden, fragte ich in einem Mutanfall sogar nach einer Toilette. Im Hinterhof mit halbhohen Pressspahnwänden befand sich diese. Als Kind habe ich immer gefürchtet, mich im Wald zu erleichtern. Die Angst, es könnten Ameisen, Käfer oder Falter dort reinfliegen, wo man es nicht möchte, konnte den Fluss erheblich ins Stocken bringen. Aber die Angst war niemals so groß wie die, dass einer dieser – mit Essensresten im Bart klebenden und am ganzen Körper Alkohol ausschwitzenden – Männer über die Pressspahnwand gekrabbelt kommen könnte. Wo war nur dieser Revolver? Ohne ihn gefunden zu haben, verließ ich im Eilschritt den Saloon und im Auto angekommen, klickte die Zentralverriegelung in Sekundenschnelle zu. Ich gab mich ergeben dem Linksverkehr hin, und dieses Mal dankbar überhaupt für diese Fluchtmöglichkeit. Dieses Erlebnis war prägend und ich reflektierte, was wohl passiert, wenn man keine Möglichkeit zur Weiterentwicklung hat, wenn man abgeschottet wird von Wissen, Fortschritt und Kultur, wenn geglaubt werden muss, was vorgesetzt wird, wenn die Gemeinschaft überschaubar ist und Anderssein nicht geduldet wird? Vermutlich durften noch nicht mal die Gedanken frei sein. Vielleicht ist kein Individuum in irgendeiner Gesellschaft frei, aber der Radius kann schon größer bemessen sein.
Als letzter australischer Staat führte Queensland erst 1965 das Wahlrecht für Aborigines ein – dafür mussten die Ureinwohner auf die Barrikaden gehen. Und erst 2013 wurde offiziell von der Regierung anerkannt, dass die Stämme der Aborigines die tatsächlich ersten Menschen in Australien waren. Vielleicht ist bis heute an verschiedensten Ecken noch Ungerechtigkeit vorhanden, aber zum größten Teil sieht man auch, wie schnell sich die Menschheit doch entwickeln kann.
Die Freiheit meiner Gedanken genieße ich mehr denn je, und ich freue mich von Yoga aufgenommen und verschlungen zu werden – selbst wenn die Yoga-„Gemeinschaft“ mich manchmal ausspeit. Aber ich bin Yoga, mit all meinem Unvermögen!
Om Tat Sat!
Do you come from a land down under
Where women glow and men plunder
On a hippie trail, head full of zombie …