Sanskrit ist tot, es lebe Sanskrit!
नमस्ते
Muss man eine Sprache lernen, die kaum noch im natürlichen Umfeld existiert? Das wurde ich schon gefragt, als ich meine zweite Fremdsprache in der Schule wählte: Latein. Die Wahl fiel einerseits aus der Intuition heraus – auch wenn ich mir damals nicht darüber im Klaren war, andererseits aus jugendlichem Protest, der sich gegen meine arme Mutter richten sollte. Meine Mutter ist nämlich frankophil. Von Kindesbeinen an wurden mir Chansons um die Ohren geschmettert – zu Hause oder im Auto. Wie eine Zwangsjacke wurde mir das Französisch übergestülpt. Die Sprache blieb mir aber immer fern, und nur die Plattencover mit Eiffelturm konnten mich begeistern (auch später kaufte ich meine LPs vor allem nach Cover). Es schien mir, dass meine Mutter sogar ihren Freundeskreis nach Französisch sprechenden Menschen aussuchte. Ich nahm es beinahe als Belästigung wahr. Aber was mache ich ihr zum Vorwurf? Sonnenklar, warum sie sich für Französisch begeisterte: es war die Zeit nach dem Krieg, und die Besatzungs-Armeen brachten eine erste Brise Internationalität in die deutschen Wohnstuben, die sonntags nach Sauerbraten rochen. Und je nach Region waren das Amerikaner, Engländer oder Franzosen (Russen auch, aber die waren etwas weiter weg), die Deutschland aufteilten. In eine französische Besatzungszone geraten, durfte meine Mutter wohl in ihrer Generation als eine der Ersten an einem Frankreichaustausch teilnehmen. Das war revolutionär. Danach verabschiedete sie sich von ihren beiden geflochtenen Zöpfen und lernte, dass man als junge Dame auch dann im Meer baden darf, wenn man seine Tage hatte und dabei weder das Meer noch sich selbst verunreinigte. Ich, in der nächsten Generation konnte mir schon wieder die Freiheit nehmen, Französisch doof zu finden – übrigens ohne jemals die Liebe zu dem Land einzubüßen. In meinen Ohren ist die Sprache zu gebunden, zu weich und zu temperamentlos. Französisch, immer weit vorne, mehr gehaucht und mit O-Lauten gesprochen, fürchtete ich immer, die letzten Speisereste würden wieder zum Vorschein kommen. Kurzum: ich nahm Latein, und musste schnell erkennen, dass es mehr Logik, System und Grammatik war als eine Sprache. Bei soviel Grammatik ist es unmöglich, intuitiv zu sprechen – wie auch immer das die Römer machten?! Die ersten Jahre machte mir der Unterricht sogar Spaß, bis ein Lehrerwechsel folgte. Alles, alles hängt vom Lehrer ab!
Wer Latein schwer findet, darf sich auf Sanskrit freuen. Mit dem Unterschied, dass Sanskrit ohne Gefühl gar nicht vorstellbar ist. Es gibt gerade mal einen Ort in Indien namens „Mattur“, wo Sanskrit noch gesprochen wird. Warum ist aber das ganze Yoga voll mit diesen Sanskrit-Begriffen? Genügt es nicht, „herabschauender Hund“ zu sagen statt „Adho Mukha Svanasana“?
Nun, Yoga ist das Geschenk, das Indien der Welt gegeben hat. Sanskrit ist die zugehörige Sprache und Devangari die zugehörige Schrift. Warum etwas abweisen, wenn man es als mit das schönste Geschenk in seinem Leben erkennt? Warum nicht pflegen und wachsen lassen? Ein herabschauender Hund sieht von aussen genauso aus wie ein Adho Mukha Svasana – jetzt mal abgesehen davon, dass dieser überhaupt nie dem Vortag gleicht und sich immer wieder verändert. Aber wir spüren in uns sehr wohl einen feinen Unterschied. Meistens fangen wir Yoga grobstofflich an, und im Lauf der Zeit entwickeln wir uns fast unmerklich zur Feinstofflichkeit hin. Wo genau wird es im Körper warm, in welche Ecken reicht der Atem, tut es da weh, wo wir wirklich dachten, was machen Gedanken mit uns, wohin wandert die Energie, wer sind wir ohne unseren Körper, und wie sind wir Lebewesen alle miteinander vernetzt? Und auch Sanskrit, gehört und gesprochen, hat eine Wirkung auf uns. Sankrit ist die Macht des Klanges. Als erstes waren da die Mantras – Buchstaben, Worte und Verse in Klang gebunden, die die Rishis (Seher) von den Göttern empfangen haben. Dabei bedeutet „die Götter“: der Natur entsprechend. Das vollkommen Logische, Unverfälschte und Pure. Erst nach den Mantras entstand die Sprache und erst lange nach der Existenz dieseser logischen Wortlaute wurde der Name „Sanskrit“ gegeben. Sanskrit bedeutet: zusammengefügt, fein, verfeinert, gebildet und blieb nachweislich seit über 3500 Jahren unverändert. Es ist womöglich die älteste Sprache überhaupt.
Für mich ist Sanskrit quicklebendig. Meine Yogapraxis ist eine andere, wenn ich zu Beginn der Klasse ein Mantra chanten darf, Asanas auf Sanskrit umgesetzt werden – es ist einfach diese Prise Achtsamkeit mehr. Sprachen sind akustische Wellen und damit Energie. Und das ist ja unter anderem ein Ziel im Yoga: Energien aufwärts bewegen, kanalisieren und vor allem spüren.
Alles hängt vom Lehrer ab! Ich wollte gerne einen Einblick in die Sprache erhalten, und dieser Wunsch war mir vor kurzer Zeit noch nicht einmal bekannt. Auf den hinteren Bänken wartend, bekam ich noch den heißbegehrten Platz bei Moritz Ulrich im Peace Yoga Berlin. Ich hätte es nicht besser erwischen können. Alles hängt vom Lehrer ab!
Viele Male habe ich ja bereits von Moritz berichtet, und meine Begeisterung ebbt immer noch nicht ab – auch und erst recht nicht nach den drei intensiven Lern-Tagen in einer kleinen sympathischen Gruppe. Ich habe mich immer noch nicht getraut zu fragen, wie alt Moritz eigentlich ist. Diese Frage erscheint mir zu indiskret, weil ich Moritz immer noch mit höchstem Respekt begegne und mich frage, wieviel Mensch in ihm überhaupt steckt. Wie kann man nur in jedem Moment so hellwach sein, parallel mehrsprachig seinen Unterricht abhalten, alles, wirklich alles sehen (auf dass mir nie ein Gedanke entgleiten möge, weil auch dieser sichtbar würde), ein Medizinstudium abgeschlossen haben, sowohl in der Yogapraxis als auch in der Theorie nahezu alles beantworten können und beinahe zehn Jahre Sanskrit studiert haben? Und das ist nur der Ausschnitt, der mir bisher bekannt ist. Das klingt vielleicht nach hochbegabtem Autisten oder einem Rentner, der nichts Besseres mit seiner Zeit anzufangen weiß. Nichts davon trifft zu! Man begegnet einem jungen Menschen, dem man einen Werbevertrag für Zahnpasta anbieten möchte und der zudem höchst empathisch und humorvoll ist. Am faszinierendsten ist jedoch die Stimme, die aus Moritz kommt. Da sehen all die Bang & Olufsen der Welt blass aus bei dieser differenzierten Klangwiedergabe! Nach einem kleinen Austausch mit anderen Schülern während der Mittagspause weiß ich, dass ich nicht alleine mit meinem Eindruck bin. Einmal Moritz beim Chanten zugehört und es ist geschehen. Geschmolzene Herzen bleiben übrig. Mehr Bhakti (Hingabe) geht nicht.
Und genauso lehrt er auch Sanskrit. Genauigkeit in der Wiedergabe, Differenzierung in den feinsten Nuancen und vor allem Hingabe. Zumindest mit der Methode von Moritz, die vom American Sanskrit Institut (ASI) aus Philadelphia stammt. Man könnte Sanskrit und Indologie studieren, vielleicht sogar im Selbststudium, aber es wäre immer sprachwissenschaftlich ausgelegt – ohne Gefühl, wie trocken Brot. Wir lernten die Buchstaben des Alphabets durch ständige Wiederholung und mit Melodie. Gesungen fügen sich die Dinge viel einfacher im Gehirn zusammen und neue Synapsen werden gebildet. Wir können uns auf einmal Dinge merken, die wir davor vergeblich versucht hatten einzupauken. Wie die Luft vorbei an unserer Zunge, die mal stromlinienförmig, mal als Widerstand im Windkanal (also unserer Mundhöhle) positioniert ist, war für mich neu. Bis auf eine Mudra (Siegel), der Khechari Mudra, die ausnahmsweise statt der gebräuchlichen Finger mit der Zunge gemacht wird, habe ich diesem Körperteil bis jetzt nicht viel Beachtung geschenkt. Aber gerade mit der Zunge kann die Energie gelenkt werden. Jedes Wort bekommt durch die Aneinanderreihung von Buchstaben eine eigene Dynamik.
Zusammengefasst: wir haben in unserem Sanskritkurs gesungen, gefühlt und auch schallend gelacht. Und spätestens ab dem Lachen wusste ich, dass Moritz Mensch ist – oder dass eben auch Götter lachen. (Für meine Schwärmerei werde ich ja oft ausgelacht – aber bei ihm habe ich Feuer gefangen, und ich werde mich einfach weiterhin in Bewunderung zu Moritz‘ Unterrichtsstil gehen lassen. Komme was mag. Moritz‘ Lebenspartner Niklas ist der Mitinhaber des Peace Yoga Berlin Studios und die perfekte Ergänzung … und war übrigens auch in der Sanskrit-Klasse dabei. Und wer weiterhin lacht, dem werde ich wohl einen Vortrag über die verschiedenen Arten der Liebe halten müssen.)
Weiter war wichtig, dass wir keine Vergleiche zu anderen Sprachen ziehen (also eben doch kein Latein), möglichst keine Eselsbrücken zu vergangen Erlerntem bilden – sondern uns ganz und gar einlassen auf diese Hieroglyphen, äh Devangari-Schrift. Und so gerne wir Yogis Transkriptionen (Lautschrift in lateinischen Buchstaben) für Sanskrit-Ausdrücke zur Hand nehmen – im Kurs haben wir von der Pike auf gelernt, wie wir die Devangari-Buchstaben mit den Lauten verbinden. Also nicht, dass ich jetzt Worte entziffern könnte – oder vielleicht doch … in stundenlanger Arbeit. Aber es ist einfach so viel genauer als eine Lautschrift. Viele Zeichen gehen bei der Transkription verloren, und so ein Zeichen, vielleicht versehen mit einem winzigen Häkchen oder einem Punkt, kann immens viel ausmachen. Es gibt wohl Transkriptionen, die recht genau sind – aber sie können nie ein Äquivalent sein zu mit Gefühl Erlerntem.
Gesprochen von einer Lehrergeneration zur nächsten bis hin zu den Schülern werden oft gravierende Fehler beim Aussprechen weitergegeben, die bis heute einfach stehen geblieben sind. Seit Jahr und Tag wird uns von „Schiewa“ (Gott „Shiva“) erzählt, aber der Angerufene fühlt sich nie angesprochen (mit einem kurzen zackigen „i“ statt einem gedehnten würde es hingegen etwas besser funktionieren). Doch man stelle sich vor, „Gott“ hieße nicht „Gott“. Ein Glück, dass das Göttliche in allem und jedem vorhanden ist. An dem Wort „Gott“ störe ich mich ja schon von Kindesbeinen an. Mit dem Namen bleibt einem nichts anderes übrig, als sich ein Wesen im Außerhalb vorzustellen, was sich erst durch jahrelanges Hinterfragen entweder in Abneigung oder Verständnis auflöst. Bis dahin ist Gott aber ein alter, langbärtiger Mann auf einer Wolke, der genau registriert, ob wieder ein Riegel Schokolade zuviel genascht wurde oder die Hände unter der Bettdecke an den „falschen“ Stellen sind. Gott sieht schließlich alles, und es führt wohl kein Weg daran vorbei, uns in unserem Menschsein elendiglich zu fühlen – bis sich vielleicht neue Interpretationsmöglichkeiten auftun. Kurzum, Namen haben durch Klang eigene Energien und es gibt ja sogar Studien, dass der Charakter eines Menschen sich seinem Namen anpasst.
Auch glauben wir vielen Sanskrit-Übersetzungen. Zum Beispiel für das Wort „Guru“ – ich glaube, ich habe es mal beschrieben mit „führe uns vom Dunkeln zum Licht“, einfach weil es von Buch zu Buch so erklärt wird. Diese Übersetzung kann zutreffen, muss aber nicht. Vielleicht ist sie so von einem Romantiker mit zu viel Interpretationsanteil niedergeschrieben worden. Die Sutren von Patanjali sind auch je nach Ausgabe mit vielen Interpretationen begleitet, und in Wirklichkeit liegt die Zauberformel darin, die Schönheit in dem Wenigen und Schlichtem zu entdecken. Yoga immer auf das eigene Leben zu übertragen und Verbindungen zu knüpfen, ist aber durchaus gewollt. Nur spätestens beim Weitergeben sollte der Freiraum geschaffen werden, dass jeder sich sein eigens Bild machen kann.
Die Buchstaben des Sanskrit-Alphabets haben es in sich. Man kann den gleichen Buchstaben mit verschiedensten Zungenpositionen aussprechen. Es gibt fünf Mundpositonen: 1. Guttural oder Kehllaut – findet hinten am weichen Gaumen statt; 2. Palatal am vorderen, weichen Gaumen; 3. Zerebal am höchsten Punkt des Gaumens, dem Gaumendach; 4. Dental an den obere Schneidezähnen; 5. Labial an den Lippen. Das lässt erahnen, dass es schon mal deutlich mehr Stimmlaute geben muss als in unseren Breitengraden. Weiter lässt sich das nun kombinieren, indem wir Buchstaben kurz und zackig oder lange und gedehnt aussprechen.
Die nächste Stufe ist, die Buchstaben hart oder weich auszusprechen. Es gibt Vokale, Halbvokale, Konsonaten. Es gibt Anusvaras, Visargas, Sakviras, Diphtonge und Ligaturen. Und da ich bis jetzt „nur“ bei Level 1 bin, also noch viel Wegstrecke vor mir habe, fehlt mir der Überblick, was da noch um die Ecke lauern könnte.
Eine Regel kann ich jedoch schon bestätigen: es wird immer feiner und feiner – deswegen der Name „Sanskrit“.
Also wer wissen möchte, was „Guru“ wirklich heißt und wie das bis jetzt immer falsch ausgesprochene „Ahimsa“ und der arme „Shiva“ tatsächlich klingen, ein bisschen Leidenschaft in sich trägt und mit dieser „toten“ Sprache den Spaß seines Lebens haben möchte, darf sich gerne anmelden zum Sanskrit Level 1 vom 17.05.2019 – 19.05.2019 im Peace Yoga Berlin. Ich würde am liebsten nochmal mitmachen, aber ich darf mein Glück nicht verspielen – und geteilte Freude ist doppelte Freude!
ॐ भूर्भुवः स्वः
तत्सवितुर्वरेण्यं
भर्गो देवस्य धीमहि
धियो यो नः प्रचोदयात्