Zufälle werden zu Fällen – aus der Reihe der kleinen Feinen
Stuttgart! Stuttgart besteht aus einem Kessel von vergleichsweise geringem Durchmesser. Der Tiefstpunkt ist leicht zu finden, da sich dort eine der berühmtesten Baustellen Deutschlands aufgetan hat. Wie ein Patient, der sich panisch in den Zahnarztstuhl drückt und dessen Mund weit offen gehalten wird von Metallarretierungen, die auch als Folterwerkzeuge durchgehen würden, gibt der Baustellenschlund von „Stuttgart 21“ Innerstes und Intimstes preis, die so keiner jemals sehen wollte. Diese Baustelle scheint ein Privatpatient zu sein, denn die Diagnose war nicht so verheerend, dass sie überhaupt behandelt werden musste. Dennoch ist eine riesige Operation in Gang gesetzt worden. Und erstmal angefangen, ist die Kettenreaktion nicht mehr zu stoppen. Mittlerweile verursachte eine Baustelle zehn weitere Baustellen.
Natur und Wald würden sich ja auch selbst regulieren, aber durch die selbstherrlichen Eingriffe ist das System außer Kontrolle geraten und muss weiter reguliert werden. So zumindest argumentieren Jäger, um nicht in den Verdacht zu geraten, willkürlich schießwütig zu sein. Stuttgart 21 ist ebenfalls das Produkt einer Bau- und Gewerbeimmobilien-Lobby. Und so ist aus einem funktionstüchtigen Gebiss nun eine Kernsanierung geworden. Damit die Bevölkerung nicht vollkommen schockiert auf die astronomischen Summe der Baukosten reagiert und gar anfängt auszurechnen, für welche sinnvollen Dinge man dieses Geld verwenden könnte, wird runter gerechnet. Anscheinend funktionieren dann auch Tunnelwände, die etwas dünner sind. Ein weiteres Beispiel dafür, dass man nur an die jetzige Generation auf dem Erdball denkt.
Und so haben wir in Stuttgart viel Wirbel um wenig Durchmesser, denn die Umleitungen nehmen ein enormes Ausmaß an, und man weiß nie, mit wie vielen Windungen und Zeitaufwand das Ziel zu erreichen ist. Vielleicht hat unsere Stadt auch schon Berühmtheit erlangt durch eine Baustellen-Begleiterscheinung: die Feinstaubwerte gehen durch die Decke und die Medien. Kein Wunder, wenn alle Frischluftschneisen, die eine Kessellage benötigen würde, zugebaut werden – und plötzlich ist der eigene Kleinwagen umringt von großen, grauen Baustellenfahrzeugen, die ihn mit ihren rußigen Dieselwolken umnachten. Ohne Stuttgart 21 gäbe es auch keine kilometerlangen Staus mit Baustellenfahrzeugen. Aber es liegt in der menschlichen Natur, sich Probleme selber zu bereiten. Zumindest ist Yoga ein unumgängliches und notwendiges Tool geworden, um im Stadtverkehr zu überleben. Und somit hat auch die Yogaszene indirekt ihren Nutzen von Stuttgart 21. Vielleicht sollte es auch eine Yogalobby geben, die auf die Politik einwirkt.
Viel Aufmerksamkeit um eine kleine Fläche – das restliche Stuttgart setzt sich aus Vororten und Dörfern zusammen. In Berlin nennt man das Kieze. Aber ein Kiez ist großstädtisch und würde auch mit einem fertigen Stuttgart 21 niemals zu Stuttgart passen. Mein Industrie-Dorf nennt sich Stuttgart-Zuffenhausen. Nicht besonders hübsch – die ersten Hochhaus-Bauten Deutschlands locken vielleicht ein paar Architektur-Studenten.
Ansonsten bestimmt die Automobilindustrie das restliche Erscheinungsbild. Außerdem ist der Ort mit überdurchschnittlich vielen Spielhallen, Solarien, verrauchten Kneipen und Ein-Euro-Läden gespickt. Ein Verlangen nach spirituellem Erwachen, esoterischer Gymnastik (wie mein Mann Yoga nennt) ist weder als Vokabel noch als Wunsch bekannt. Die einzig Yoga-Irre in Zuffenhausen dürfte ich wohl sein.
Dachte ich!
Letztes Jahr war ich für ein verlängertes Wochenende auf Sylt. Dünen, hohe Wellen, tiefe Atemzüge – Freiheit!
Aber es war Hochsaison, was bedeutet, dass spontane Restaurantbesuche utopisch sind. Es ist unmöglich, einfach dann zu essen, wenn man Hunger hat – und es gelingt erst recht nicht dort, wo es einem gefällt. Wochen vorher ist alles bereits ausgebucht. Wie machen die anderen das? Wissen sie, dass sie am 10. August 2022 um 18.45 Uhr Hunger auf Spaghetti haben?
Die Restaurantwahl, die keine wirkliche Wahl war – mit einem Tankstellenbrötchen muss ich meinem Mann bei Hunger nicht kommen – führte uns in ein Restaurant in Westerland, das uns noch für ein befristetes Zeitfenster Einlass gewährte. Von Strandlage gefühlt weiter entfernt als Zuffenhausen. Krampfhaft versuchte ich, nicht wie gebannt auf die scheußlichsten Vorhänge der Welt zu starren. Egal wie sehr ich mir wünsche, meine Emotionen in Zaum zu halten – schließlich geht es zumeist um Luxusprobleme –, verrät mein Gesicht unkontrolliert mein Gefühlsleben. Deutlich, laut und meist klar erkennbar für andere Menschen. Trotz des umgehenden Gegenimpulses, aufzuzählen wofür ich dankbar bin (was ja eine ganze Menge ist), bleibt noch die Zeitspanne, in der kochendes Wasser auf Handwärme abkühlt. Diesen Moment könnte man allerdings auch dafür nutzen, sich selbst zu observieren und dabei festzustellen, dass das eigene Problem doch vielleicht etwas lächerlich sein könnte.
Währenddessen wurde meine Stirnfalte vermutlich vom Nachbartisch wahrgenommen, und mein Mann und ich wurden gefragt, ob wir aus Süddeutschland seien. Aufgrund der Stirnfalte und der hängenden Mundwinkel? Das scheint ja ein typisch süddeutsches Erkennungsmerkmal zu sein. Man sagt mir eigentlich nach, meist fröhlich zu sein – genau dazu habe ich mich tatsächlich auch vor Jahren entschieden. Aber an diesem Tag war für mich erst mal schwer zu verdauen, dass man sich mitten auf Sylt für den Räuber Hotzenplotz als Innenarchitekt entschieden hatte. Und jetzt wurde ich als Schwäbin enttarnt. Mist! Ja, ein Schwabe hat in der Regel hängende Mundwinkel, und dem Schwaben geht es per se nie gut. Das ist historisch bedingt: die Region war bettelarm und man hatte nichts herzugeben. Entblößte sich in der Region eine Frohnatur, musste bei ihr wohl etwas zu holen sein. Leider hat auch Generationen später die Schwerkraft den Mundwinkeln nicht entgegengewirkt.
Jedenfalls wurden wir vom Nachbartisch aus wir in ein Gespräch verwickelt. Sogar der scheußliche Vorhang entschwand aus meinem Blickfeld. Das Paar, das uns als Süddeutsche enttarnt hatte, war selbst aus dieser Region. „Ah ja! Ihr auch aus Süddeutschland? Was? Stuttgart? Direkt Stuttgart? Zuffenhausen? Ach … „. Der Abend nahm eine andere Wendung, und wir lachten lauthals. Wir hatten etwas gemeinsam und fühlten uns verbunden. Schon das war ein bisschen Yoga aus Zuffenhausen im hohen Norden. Aber es kam noch besser: ich saß neben meiner Tischnachbarin gleichzeitig auch neben Zuffenhausens einziger Yogalehrerin. Zumindest die einzige, die auch die Suchmaschine kennt: Uschi Ihlefeldt. Zum Zeitpunkt unserer Begegnung steckte ich noch mitten in meiner Yogalehrer-Ausbildung, mit all meinen Zweifeln, ob ich es wohl schaffen würde. Den Weg zu vielleicht Zuffenhausens zweiter Yogalehrerinnen hatte ich also damals noch vor mir.
Uschi Ihlefeldt gehört ein kleines, feines Yogastudio in diesem Stadtteil Stuttgarts, das sich unter ihrem Namen leicht finden lässt. Und gleich in den Räumen nebenan betreibt ihr Mann Jürgen eine Praxis für Physiotherapie.
Viel zu lange nach unserer Rückkehr fand ich an einem Abend endlich die Zeit, eine ihrer Yogaklassen zu besuchen. Es war anderes Yoga als ich es gewohnt war. Ein Yoga der leisen Töne. Ein Yoga der sachten Bewegung und des tiefen Einfühlens. Uschi als Yogalehrerin mit langer Erfahrung erfüllte mein Herz zunächst mit einer kleinen Achtsamkeits-Aufgabe. Es folgten entspannte, langsame Asanas im Hatha-Stil.
Ich kann Uschi Ihlefeldt nur heiß und innig empfehlen für Anfänger, für Yoga-Wiedereinsteiger, zur Mobilisation nach und bei Verletzungen, wenn man erst im fortgeschrittenen Alter seinen Bewegungsapparat entdeckt hat – oder wenn Berufsleben, Kindererziehung und Haushalt keinen Platz mehr für das eigene Selbst ließen. Zudem: wann immer Yoga zum Zirkus wird und abhebt, kann man in dieser Oase wieder Kraft schöpfen. Yoga eben!
Bitte checkt ihre Kurszeiten und meldet Euch bei Interesse auf Uschi Ihlefeldts Webseite an. Uschi ist eine Inspiration, und versprochen: ihre Mundwinkel sind ganz weit oben.