Wenn die Yogamatte unter den Füßen weggezogen wird

Der Herbst, insbesondere der September, war so voller Erlebnisse, dass ich mich jetzt wirklich auf die ruhigere Jahreszeit freue. Zurückziehen und Erlebtes reflektieren können. Der Herbst ist das fleischgewordene Prathyara – das Zurückziehen der Sinne! Außer dass ich für meine Verhältnisse neben meinem Job relativ viel Yoga selbst unterrichtet hatte, mein erster Ashram-Besuch dermaßen aufregend war, ein verlängertes Wochenende in Berlin direkt folgte, ich dem schönsten Yogafestival der Welt „Wildsoul Yoga Jam“ von früh morgens bis spät abends beiwohnte, privat auch noch alles Kopf stand, gipfelte das Septemberende in ein paar Tagen Italien. Trotz des vorangegangenen Stresses war dieses verlängerte Wochenende ein Pflichttermin. Denn jetzt sollte sich endlich der Kreis schließen: Yuliana, meine schicksalshafte Begegnung aus New York und Liz, eine Freundin meines Mannes aus London, sollten uns an der Amalfi-Küste treffen, wo Yuliana Gastgeberin eines großartigen Yoga-Retreats war.

Von rechts nach links: Yuliana, Liz und ich.
Der beste Mann der Welt, der schließlich der ausgehende Verbindungspunkt unserer Bekanntschaften (mittlerweile Freundschaften) war, sollte mitkommen. Damit er nicht inmitten eines Haufens von Frauen landetete, die esoterische Gymnastik machen und nur darüber reden (sein Verständnis von Yoga), sollte er sich wenigstens mit einem Bein in die Welt der „Normalen““ retten können. Deshalb buchten wir ein Hotel abseits vom Yoga-Retreat – und auch nicht für die ganze Länge des Retreats, sondern nur für ein kleines Zeitfenster.
Mein Mann musste die Teilnahme einen Tag vorher absagen. Viel Zeit zum Überlegen hatte ich nicht, ob ich jetzt überhaupt noch mitgehen wollte. Der erste Impuls war auch tatsächlich „Nein“. Aber Hotel, Flüge und Mietwagen waren bezahlt ohne Chance auf Rückerstattung. Also fasste ich den Entschluss hinzugehen. Der Wille, dazu beizutragen, dass der Kreis sich schließt, und die Abenteuerlust zwickten mich, und es war ja schließlich nur Italien. Was sollte groß schief gehen?
Nun, ich wurde vom Leben auf Herz und Nieren geprüft. Mit anderen Worten: Yoga wird extrem herausfordern, wenn die Matte unter den Füßen weggezogen wird. Oder mit nochmals anderen Worten: es ging schief, was nur schief gehen konnte. Wie gut sich die Geisteswellen doch auf Yoga einrichten, wenn sich das kleine Mattenviereck unter den Füßen befindet. Und wie sehr man scheitert und das Erlernte nicht übertragen kann, wenn es das echte Leben betrifft. In diesem Sinne bin ein blutiger Yoga-Anfänger.
Meine ersten 24 Stunden nach der Landung brachten mich komplett aus der Bahn – und Gleichmut wollte sich bei allem gutem Zureden durch mich selbst einfach nicht einstellen. Es dämmerte mir sehr wohl, dass ich nichts an der Situation änderte, wenn ich durch Missmuts-Äußerungen die Fassung und auch meine Energie verlor. Mein Koffer kam nicht auf dem Gepäckband angerollt wie bei allen anderen Fluggästen, und das Mantra „war ja klar, dass es mich trifft“ wurde Anfang einer self-fulfilling prophecy. Meinen Koffer fand ich circa eine Stunde später, aussortiert in einer anderen Ecke. Aber das war ja doch noch viel besser als ihn gar nicht zu bekommen. Leider summte ich trotzdem nicht das Mantra der Aufheiterung – der Geist merkt sich schließlich viel lieber die negativen Ereignisse. Der arme Kerl will ja eigentlich nur warnen, damit wir überleben, und nicht nochmals in eine missliche Lage geschickt werden. Aber ein nicht prompt erhaltener Koffer ist ja eigentlich noch weit weg von Lebensgefahr. Den Geist zu beherrschen und sich nicht von ihm beherrschen zu lassen bedarf schon einer langjährigen Jedi-Schulung, und täglicher Übung.
Aber weiter ging es: Am Zielflughafen Neapel sind die Autoverleih-Parkplätze nicht fußläufig, ein Shuttlebus pendelt hin und her. Ein kleiner Mietwagen sollte mir ein bisschen Freiheit und Unabhängigkeit schenken. Wenn ich nur nicht wieder von dem Personal sämtliche überflüssigen Versicherungen aufgeschwatzt bekommen würde. Noch während der Shuttle-Fahrt bleute ich mir ein, Nein zu sagen und es auch so zu meinen. Angekommen unterschrieb ich alle mir aufgeschwatzen Versicherungen, und kaufte mich somit von dem Blick, der mich sonst bis in die nächsten Nächte verfolgt hätte, frei. War ja klar! Am Auto angekommen wollte ich den Kofferraum mit meinem Gepäck füllen. Aber es gab aber nichts zu füllen – in Vorbereitung auf mein Dialogduell hatte ich meinen Koffer im Shuttlebus vergessen. Doch auch diesmal Glück im Unglück: Unter allen gleich aussehenden Shuttlebussen fand ich meinen Koffer tatsächlich wieder! Ob mein Geist nun verstehen würde, was für ein Glückspilz ich doch war? Er sprach aber zu mir „Du hast eine 10er-Karte-Glück, ich verrate Dir aber nicht, wann sie angefangen hat – aber bestimmt ist sie beim nächsten Mal schon abgelaufen“.
Mittlerweile war die Zeit knapp geworden, um zur Nachmitagsstunde in Yulianas Retreat aufzutauchen. Planänderung: ich würde zuerst dorthin fahren, bevor ich ins Hotel einchecke. „San Francesc“ gab ich in mein Navi ein. Eine Navi ist für mich eine der lobenswertesten Erfindung der Neuzeit. Komisch, dass mein Zielort so viel anders aussah als auf den Fotos, aber das kennt man ja von bebilderten Speisekarten auch. Die Yogastunde fing in fünf Minuten an, als mich die leise Ahnung beschlich, dass ich komplett falsch war. Auflösung: eine weitere Dreiviertelstunde entfernt liegt der Ort Massa Lubrense, wo sich das Kloster „San Francesc“ befindet, das dann auch wirklich so aussieht wie auf den Bildern des Yoga-Retreats. Für den aktuellen Tag konnte ich meine Yogaeinheit vergessen – ich biss in mein Lenkrad. Versichert war ich ja.
So müde wie ich war war es nun das Sinnvollste, das Hotel in Sorrent aufzusuchen und die Bettdecke über meinen Kopf zu ziehen. Immer noch war mir bewusst, es gab Schlimmeres – aber erste Verzweiflungsfalten gruben sich in meine Stirn. Eine große Erwartungshaltung (Erwartungshaltungen machen immer alles zunichte) konnte ich vor der Reise gar nicht aufbauen, dafür aber auch nicht die dringend benötigte Hakuna-Matata-Einstellung. Es war schließlich „nur“ Italien – und kein exotisches Ziel. Nun, es stellte sich heraus, dass es an meinem Hotel, erreicht nach zig verwinkelten engen Gassen, gar keinen Parkplatz gab. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen bin, dass es überhaupt Hotels ohne Parkplatz gibt. Für meine Verweildauer musste ich mir einen Stellplatz in einem Parkhaus anmieten, ein gutes Stück entfernt. Ich würde nun davon abhängig sein, dass der Parkplatzservice mir mein Auto täglich zu den Yogastunden vors Hotel fährt, ich den Fahrer am Parkhaus wieder absetze und anschließt den Weg zum Kloster „San Francesc“ finde. Wenn ich lauthals in Yogastunden „Lokah Samstah Sukinoh Bhanvantu“ (mögen alle Lebewesen glücklich und frei sein und meine Gedanken, Handlungen und Taten dazu beitragen) chantete, bin ich noch nie auf die Idee gekommen, mich selbst einzuschließen. Meine Freiheit und Unabhängigkeit war auf jeden Fall flöten gegangen. Zugegeben, immer noch ein verschwindend geringes Problem als die vieler Mitlebewesen, denen ich wünschte, mein Mantra würde sich endlich für sie erfüllen. Wenigstens konnte ich mich jetzt endlich todmüde zum Schlafen legen. Die italienische Mentalität hatte ich bei meinem Plan vergessen. Auf der benachbarten Dachterrasse startet eine Fete mit Techno-Beats – und selbst wenn ich einen Ohrenschutz dabei gehabt hätte, ließ der Bass mich jedes Mal einen haushohen Satz auf der Matratze machen. Man kann sich jedoch nicht lächerlicher machen als in Italien auf deutsches Recht zu bestehen.
Aber sieh mal da, lieber Geist! Was hatte ich doch wieder für ein Glück: der Parkplatzservice brachte mir mein pünktlich Auto – so früh am Morgen, dass alles noch in tiefschwarze Nacht eingehüllt war. Der Geist dämmerte aber noch im Tiefschlaf und kam nicht mal auf die Idee, mir zuzuhören. Es nieselte. Diesmal sollte es doch klappen, den Weg zum Yoga-Retreat zu finden. Der Nieselregen wuchs jedoch schnell zu einem Starkregen an. Die italienschen Sträßchen verbargen ihre Kurven bis auf die letzten Zentimeter. Nun ging es steil auf Pflastersteinen bergab. Links und rechts hohe Mauerwände, die sich immer weiter verjüngten und überall sprudelte aus den Überlaufrohren das Wasser heraus. Ich fuhr die Niagarafälle herunter! Und während ich mich in der einen Sekunde noch als Actionheld pries, schlug die Stimmung um in Panik. Fingen hinter der nächsten scharfen Biegung etwa Treppen an? Was machte diese dankenswerte Erfindung „Navi“ da mit mir? Jeder Stuntman kann Treppenfahren wenigstens im Vorfeld ausprobieren. Den vorangekommenen Kilometer konnte ich unmöglich bei der Steigung, dem Regenfall, der Dunkelheit, und der Enge wieder zurück fahren. Ich zog die Handbremse an und wollte bis zum Morgengrauen warten bis mich ein Einwohner schimpfend aus der Gasse und meinem Elend retten würde. Bis es soweit war, konnte ich ja noch ein paar Tränen vergießen.
Ich atmete ein paar Mal tief durch und entschloss mich dann, mich in den Heldentod zu stürzen. Wenn ich schon fast stecken blieb, dann würde ein ganz Steckenbleiben es auch nicht mehr schlimmer machen. Doch siehe da: Die Treppe hatte nebendran noch einen schmalen Weg, der vorher nicht einsehbar war. Ich kam unten an und stand vor dem Kloster! Yuliana holte mich ab, und alle Wolken zogen auf. Drama ist immer nur im eigenen Kopf. Bestimmt wäre ich ein guter Drehbuchautor.

Relais San Francesco
Eine Gruppe freundlicher Amerikanerinnen und Amerikaner hieß mich herzlich willkommen. Wie wohl die Amerikaner sein würden? Meine Vorurteile werden ja in der Regel durch das glatte Gegenteile entkräftet. In meine Yogagruppe fanden sie ihren Präsidenten auch komisch und sie waren weit von Fast Food und Prüderie entfernt. Im Gegenteil, es war sogar schwierig, die verwöhnten Gaumen zufrieden zu stellen. Mit fast allen aus der Gruppe konnte ich eine herzliche Verbindung aufbauen. Mit jeder Verbindung prasselte eine neue Erlebniswelt auf mich ein, und nun werde ich noch einige Zeit brauchen, das Erlebte zu verdauen.
Unfassbar finde ich den Umstand, dass die zufälligen Begegnungen zwischen Liz aus London, Yuliana aus NYC und mir tatsächlich zu einer gemeinsamen Zusammenkunft führten. Richtig komplett wurde die Verbindung noch durch Isabella, Yulianas langjähriger Freundin aus München.

Von rechts nach links: Isabella, Yuliana, Liz und ich.
Außerdem öffnete Yuliana für mich einen kleinen Vorhangsspalt und ich konnte erspähen, wie anstrengend es würde, ein Yoga-Retreat mit so vielen verschiedenen Persönlichkeiten vorzubereiten, Freizeitangebote zu schnüren, alles unter einem Dach zu halten, parallel noch Yogasequenzen auszuarbeiten und bei alledem noch Spaß zu haben. Yuliana merkte man dabei keinerlei Mühe an, und auch meine angenommene Pechsträhne verblasste.
Ich bereue keine Sekunde meiner Reise.
Yuliana und Andrea, eine weitere Yogalehrerin aus NYC, machen beide herausragende Yogastunden, die mich total begeistert haben. Beide haben ihre Ursprünge im Ashtanga, was die Yogaklassen deutlich prägte. Ich freue mich schon auf das nächste Retreat, das in Europa stattfindet. Vor allem auf das Besserwerden abseits der Matte! Unendliche Dankbarkeit fließt durch meine Adern.
Ich bin kein Pechvogel – ich bin ein Glückspilz!