Hot in the city
Das Leben ist dazu da, so viel wie möglich auszuprobieren und reich an Erfahrungen zu werden. Dass ich mein neuestes Erlebnis nicht aber schon früher gemacht habe, wundert mich selbst. Mit eingezogenem Hals und Rundrücken laufe ich durch den Winter, um so wenig Körperoberfläche wie möglich der Kälte auszusetzen. In dieser Position vereise ich dann auch gerne mal … über Monate. Kälte ist ja relativ, aber für mich fängt der Winter im September an und dauert bis Ende April – so lange friere ich zumindest. Wenn es während dieser sieben Monate an der Haustür klingelt und – vorausgesetzt ich bin daheim –, öffne ich gerne gedankenverloren die Tür und stehe dann da mit meiner Wärmeflasche im Bund einer Jogginghose. Ein letzter Funken Anstand hält mich davon ab, so zum Arbeitsplatz zu erscheinen. Trotz meiner geringen Körpergröße scheint meint Blut auch nicht durch die Zollkontrolle zu kommen, um meine Füße zu erreichen. Füße? Eisklumpen! Wenn ich nicht gerade so dankbar wäre über mein Leben, angefangen von der warmen Dusche morgens, die vielen Möglichkeiten satt zu werden, manch einem lieben Mitmenschen, das Glück,Vögel zu beobachten, wie sie sich auf einen Meisenknödel stürzen, der Duft von Kaffee in der Nase und und und – temperaturmäßig bin ich am falschen Ort geboren.
Ein Gang in den städtischen Zoo – in Stuttgart heißt dieser „Wilhelma“ – ist vielleicht ambivalent zu sehen. Tiere in ein Gefängnis zu stecken, damit sie uns zur Unterhaltung dienen, entspricht nicht dem Zeitgeist. Mir läuft aber auch ein Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke, dass mittlerweile jedes Tier auch einen menschlichen Bodyguard in der freien Wildbahn benötigt. Die Wilhelma hat jedoch auch ihr schönes Gesicht: die Architektur ist wie aus 1001 Nacht, und gleich am Anfang kommt das Tropenpflanzenhaus. Mit einem Sesam-öffne-Dich taucht man in eine andere Welt ein. Eingehüllt in Wärme, fange ich wie eine Schildkröte an, meinen Kopf aus der Kauerhaltung zu strecken und mich auszudehnen. Ich bin in meinem Element.
Feucht-warmes Klima ist meine absolute Wohlfühlzone. Ein Grund, warum ich auch so gerne in der Nebelwolke eines Dampfbades sitze. Und ich wette, dass jeder in unbeobachteten Momenten ein paar Asanas in der Wärme ausprobiert, zumindest ein paar Dehnübungen und feststellt, nichts reißt oder zerrt, der Bewegungsradius größer als sonst und alles fühlt sich weich und geschmeidig an.
Wie konnte ich also erst nach Jahren Yogapraxis darauf kommen, dass es für meine Winter-Bedürfnisse einen Yogastil gibt! Hot Yoga, auch Bikram Yoga genannt. Vermutlich weil mir so viel Kritisches darüber zu Ohren kam, dass ich diesen Stil in die hinterste Ecke meines Bewusstsein verbannt habe. Bikram Choudhury hat diesen Stil Ende der Sechziger Jahre erfunden, und was man über ihn liest, lässt ihn nicht als sympathischsten Zeitgenossen erscheinen. Nachdem Herr Choudhury mit seiner Hot-Yoga-Erfindung nach Kalifornien übersiedelte, roch er wohl schnell das große Geld. Seinen Yogastil mitsamt seiner Abfolge wollte er sich patentieren lassen. Er ist damit gescheitert – schade, dass dies ein paar anderen Yogastilen gelungen ist. Mit der Grundidee, dass Yoga für alle ist, war es somit vorbei – und eine Weltanschauung, vielleicht mit unterschiedlichen Ausrichtungen, der die Natur zu Grunde liegt, war dem Kommerz unterworfen. Yoga macht heutzutage, wer gebildet ist, sich um seine Gesundheit kümmert, modern ist – und es sich leisten kann.
Einen weiteren Unsympathie-Punkt hat Herr Choudhury sich damit verdient, dass er Yogawettbewerbe ausrichtete. Wettbewerbe! Im Yoga! Nichts könnte weiter auseinander liegen. Bewertet wurden unter anderem der Körperbau und die Kleidung. Ein guter Grund, schreiend davonzulaufen.
Der attraktive Körperbau führt vermutlich zum dritten unyogischen Anklagepunkt: die hübschen Schülerinnen durften Herrn Choudhury wohl als Gottes Geschenk „genießen“ – nicht immer freiwillig. Natürlich stütze ich mich mit meinen Aussagen auch auf Veröffentlichungen im Netz, und es ist bekannt, dass davon nicht alles stimmt. Beweisen kann ich ohnehin nichts, die Informationen sind also mit Vorsicht zu genießen. Da Yoga aber nicht die mediale Reichweite hat wie Filmproduktionen oder die Musikbranche, werde ich nicht warten, bis die Vorwürfe zweifelsfrei geklärt sind – und mich zumindest nicht im Zweifel für den Angeklagten äußern.
Trotzdem, Hot Yoga musste ausprobiert werden – schließlich war mir kalt, und es schien mir eher unwahrscheinlich, dass der Erfinder selbst in Stuttgart unterrichten würde.
Bislang hatte ich gar nicht im Blickfeld, dass es in Stuttgart ein Yogastudio gibt, in dem Hot Yoga unterrichtet wird. Mitten in der Schwabenmetropole! Nicht nur, dass laut Medien Stuttgart mittlerweile die Stadt mit den teuersten Mieten ist, sondern auch die Energiepreise dürften überdurchschnittlich sein. Bikram Yoga findet in Räumen statt, die auf 38 bis 40 Grad Celsius aufgeheizt werden und 40 Prozent Luftfeuchtigkeit haben. Die Energie dafür muss erstmal aus den Rohren kommen und bezahlt werden. Ich vermute, dass die Energiekosten schon für ein „normales“ Yogastudio nicht unerheblich sind. Ohne mir architektonisch große Gedanken gemacht zu haben: Wände, Decken, Boden und Elektrik müssen der hohen Luftfeuchtigkeit standhalten, ohne gleich Schimmelpilze zu bilden. Vermutlich verursacht das alles Extrakosten. Ach ja, geschwitzt wird natürlich auch mehr – und der Duschbedarf ist entsprechend größer.
In einem Innenhof im Stuttgarter Westen fand ich das OM Yoga Stuttgart, und noch bevor ich eintrat, befiel mich das Gefühl von Internationalität. Das OM Yoga könnte genauso gut in der Upper West Side von NYC stehen, und tatsächlich: ich wurde beim Eintreten gleich von meinem Lehrer auf Englisch begrüßt. Übrigens, meine Drop-In Kosten waren nicht höher als in anderen Stuttgarter Studios: 18 Euro. Dafür bekam ich ein Winter-Wellness-Allround-Paket. Für Bikram Yoga muss man übrigens nicht seinen Bikini rauskramen, die meisten Schüler haben ganz normale Yogaklamotten an, vielleicht etwas leichter. Eine lange Hose empfiehlt sich sogar, damit man an seinem schweißtropfendem Bein nicht abrutscht. Auch machte ich mir Sorgen um meine Yogamatte – ob der Naturkautschuk das feuchtwarme Klima aushält. Aber mir wurde bestätigt, dass jede Yogamatte das ertragen können muss. Was zusätzlich zu anderen Yogavarianten gebraucht wird, ist ein großes Handtuch zum Yogen selbst und ein Handtuch in Wunschgröße für das Duschen hinterher (schlau ist, dieses nicht in den Yogaraum mitzunehmen, da es auch ohne Abtrocknen ziemlich nass werden würde). Vielleicht auch mehr zu trinken mitnehmen als normalerweise.
Nach dem Betreten des Yogaraums: Wärme! Das Tropenhaus in der Wilhelma, das ersehnte Dampfbad, die Dschungeltour durch den Amazonas! Aber würde ich noch glücklich sein, wenn ich mich bewegen müsste?
Bikram Yoga besteht aus einer Abfolge von 24 Asanas und 2 Pranayama-Übungen. Jedes Asana wird einmal wiederholt, und somit werden die 90 Minuten gut gefüllt. Auf den Lehrer war ich anfangs etwas neidisch, muss er sich doch nie einen neuen Flow ausdenken, dank der vorgegebenen Bikram-Sequenz. Letztlich hatte er aber doch so einige Ausrichtungen im Sergeant-Ton von sich zu geben, so dass er einen ziemlich langen Atem brauchte. Ehrlich gesagt, ich hatte einen Riesen-Spaß. Vielleicht war dieser Effekt ungewollt, meine Mitschüler sahen eher ernst aus, selbst später in der Umkleidekabine noch. In dem innerhalb des Yogazirkels doch eher überschaubaren Stuttgart kam mir nicht ein Gesicht bekannt vor. Es war eine ganz neue und eigene Klientel. Aber schön für mich, unerkannt abzutauchen – da machte es auch nichts aus, wenn ich ein Asana versemmeln würde. Anonymität gibt viel Freiheit, die man sich sonst hart erkämpfen muss – vorausgesetzt, man erkennt, dass man nicht frei seiner Natur handelt.
Nach dem dritten Asana lief mir der Schweiß runter. Komplett neu für mich war, dass ich mich im Spiegel ertragen musste. Hot-Yoga-Studios sind immer mit Spiegeln ausgestattet – während in allen sonstigen Stilen Yoga eine innere Angelegenheit ist, und man nicht durch das äußere Erscheinungsbild falsche Schlüsse auf das eigene Selbst ziehen soll. Jetzt war ich plötzlich mit meinem Abbild konfrontiert. Ich hatte mich schon lange nicht mehr als Ganzes gesehen, wenn ich allmorgendlich vor dem Badespiegel stehe, zoome ich nur kleine Stellen hervor, um hier und da ein Haar zu zupfen, wo es nicht hingehört, und vielleicht wieder eine Falte neu zu entdecken. Jetzt sah ich mich sogar agieren. Was sich da nur alles in meiner Halsgegend bewegte, ohne dass ich es willentlich ansteuerte? Meinen Hintern rückwärts betrachtet, hatte ich mir allerdings schon etwas kleiner erhofft. Einen Blickpunkt und Fokus, genannt Drishti, am Körper oder vor sich zu finden (die Drishtis sind für jedes Asana fest definiert), war mit dem Spiegel eine wacklige Angelegenheit. Ob das mit den Spiegeln auf Bikram Choudhuryas Wettbewerbe und Beurteilungen des Körperbaus zurückzuführen war? Aber die Sequenz ging weiter, und ich hatte keine Muße, mich mit meinen Gedanken weiter aufzuhalten. Spätestens in Natarajasana (dem Tänzer) outete ich mich als Neuling. Während sonst meine vordere Hand automatisch die Chin Mudra (Zeigefinder und Daumen berühren sich) formt, geht es im Bikram Yoga sachlicher zu. Wenn alles zerläuft, muss die Feinstofflichkeit mal zurückstecken.
Die Stunde hatte ich überlebt. Zufrieden wollte ich in der Schlussentspannung, Savansa, in meine Matte schmelzen. Aber wieder anders als sonst, verabschiedete sich der Lehrer schon zuvor mit der Ansage, wir sollen so lange liegen bleiben, wie es uns angemessen erschien. Es war kein ruhiges Savasana, ich hörte nämlich Sekunden später ein eiliges Matteeinrollen, Schritte und Türgeklapper. Diese paar Sekunden konnten niemals ausreichen, dass der Körper noch in Ruhe seine gewonnenen Informationen verarbeitet. Es war mein unruhigstes Savasana. Hinterher glaubte ich, den Grund dafür erkannt zu haben: ohne Wartezeit einen Duschplatz zu ergattern!
Es gibt den einen oder anderen Anfänger im Yoga, der auf die Frage, was sein Ziel im Yoga ist, antwortet, abzunehmen. Nun für Hot Yoga mag das nun endlich tatsächlich zutreffen. Der weitere Vorteil ist jedoch, dass die Muskeln und Bänder so weich und warm sind, dass eine Verletzungsgefahr so gut wie ausgeschlossen ist. Ein tieferes Reingehen in die Asanas wird durch die Wärme möglich.
Meine Haut war danach samtig weich, mein Körper fühlte sich frei von allen Giften, Ansammlungen und Aufschwemmungen an. Abends gab es noch ein ohrenbetäubendes Geräusch in meinem Nacken – die Wärme hatte wohl irgendeine Verklemmung gelöst, und ich konnte meinen Nacken endlich wieder bis zum Schulterblick bewegen. Wohlig müde und glücklich schlief ich endlich wieder eine Nacht durch. Es wird nicht mein letztes Mal im Hot Yoga gewesen sein.
Danke OM Yoga Stuttgart!
Und natürlich gibt es im OM Yoga neben Hot Yoga auch das „normale“ Programm, wie Yin- und Vinyasa-Stunden.