Kirche, Yoga und ich dazwischen

In einem E-Mail-Verkehr meinte eine Bekannte von mir, „also Yoga könne sie nicht anfangen. Das vertrage sich mit ihrem christlichen Glauben überhaupt nicht. Im Yoga gibt es doch so viele Götter.“ What? Zum Glück war unser Austausch elektronisch, meine Gesichtszüge sind mir entgleist, und bis heute bin ich die Antwort schuldig – musste aber wochenlang dieses Thema verdauen. Wo soll ich nur anfangen?
Aber gut, ich muss ihr zu Gute halten, als ich Yoga angefangen hatte, ging es mir ums Körpergefühl und darum, dass ich vielleicht in der stehenden Vorbeuge mit meinen Pfoten etwas mehr in Bodennähe komme als dass sie irgendwo zwischen Bauch und Knie herum baumeln. Darum, dass ich mich etwas dehne – mindestens einmal pro Woche. Meine Bekannte musste im Yoga definitiv mehr erkannt haben, ohne es jemals praktiziert zu haben. Trotzdem kam mir die Begründung absurd vor. Ja, der indische Himmel ist ein Wimmelbild an Gottheiten. Und was die mythischen Geschichten angeht, wird mancher Soap-Opera-Drehbuchautor grün vor Neid im Gesicht. Bei den Göttern geht nämlich wirklich die Post ab! Spielchen, Intrigen, Superkräfte, die ihresgleichen suchen.
Das große Buch der indischen Mythologie nennt sich Mahabharata. Die Mahabharata beinhaltet auch das Buch der Bhagavad Gita. Die Bhagadvad Gita nehmen wir im Yoga gerne zur Hand, um den Kampf mit uns selbst zu beschreiben. In der Bhagavad Gita wird dieser Kampf sehr bildhaft als blutrünstiger Krieg dargestellt. (Aber die grammatikalischen Konstrukte in lateinischer Sprache vernebeln einem ja auch die Sinne – und erst Jahre später checkt man, dass es in den Schullektüren auch fast ausschließlich um Krieg ging.) Keiner sollte den Kampf mit sich selbst scheuen, wenn die persönliche Entwicklung vorwärts gehen soll. Ein schwerer Gang – jedoch unvermeidbar, sofern man zu seinem wahren Selbst und seiner Bestimmung gelangen möchte.
Götter, Halbgötter, Dämonen und auch ein paar Normalsterbliche tauchen in der Mahabharata auf. Die Götter haben es zum Teil faustdick hinter den Ohren, denn sie können auch noch als verschiedene Avatare in Erscheinung treten, sehen nach Lust und Laune anders aus, und heißen dann auch anders. Jeder Gott hat eine Eigenschaft und verkörpert einen Aspekt. Je nach Lebenslage rufen wir die Götter an. Es sei denn wir haben uns per Religion einem Gott verpflichtet. Der Aspekt bekommt also eine Erscheinungsform, und so wird es leichter, ihn an die Hand zu nehmen und mit ihm zu arbeiten. Yoga kann zwar auch wie eine Religion gelebt werden, ist jedoch eine Weltanschauung – eine Philosophie, die auch wiederum verschiedene Strömungen aufweist. Dem Hinduismus, Buddhismus, Jainismus, dem Vedanta, dem Smakhya und dem Yoga (soweit die wichtigsten Religionen und Philosophie-Systeme) liegen die „Veden“ zugrunde. Wenn wir im Yoga Mantras chanten, in denen zum Beispiel der Gott Ganesha angerufen wird, wünschen wir uns, ein Leben frei von Hindernissen – oder wenigstens für diese eine kurze Zeit der anstehenden Abschlussprüfung.
Die indischen Götter waren mir selbst noch nie im Weg. Fasziniert lausche ich den Geschichten über sie. Wie menschlich sie doch sind! Wenn sie sich also auf den Weg machen, um Probleme zu lösen, können wir das auch tun. Derjenige, der mir von Kindesbeinen an als der eigentliche Gott vorgestellt wurde, wurde dagegen nie mein Freund. Früh hatte ich schon mit der Kirche gehadert, auch wenn es von außen noch nicht sichtbar war, und ich erstmal angepasst vor mich hin lebte. Meinem individuellen Glauben und überhaupt dem Konzept „Gott“ konnte ich mich allerdings erst mit Yoga wieder ein bisschen annähern, ohne gleich einen Kloß im Hals zu verspüren.
Wie alles anfing: wenn meine Eltern eine Verschnaufpause von mir brauchten, wurde ich für mehrere Tage oder Wochen zu meiner Oma geschickt. Immer zur Mittagszeit betete sie fleißig und las aus der Bibel vor. So in etwa, „der Herr ist für die Schöpfung zuständig, und jedes Lebewesen hat darin seinen Platz und seine Berechtigung“. Danach stiefelte meine Oma in ihren Garten. Die Schnecken mit Haus landeten im hohen Bogen in Nachbars Garten. Die ohne Haus hatten weniger Glück, und wurden mit einem ausrangierten Küchenmesser, von denen eines in jedem Beet steckte, halbiert.
Bei meiner Oma hatte ich keine gleichaltrigen Freunde zum Spielen, der ganze Ort schien mir nur aus beige-grauen Rentnern zu bestehen. Vermutlich waren alle etwa in dem Alter, in dem ich mich heute befinde. Meine besten Kameraden waren daher diese Schnecken. Stundenlang unterhielt ich mich mit ihnen. Der Weg, ein seltsamer Einsiedler-Mensch zu werden, war geebnet. Zutiefst war ich von meinen Schnecken fasziniert. Ob sie mich mit ihren Stilaugen auch in allen Farben sehen konnten? Ob sie sich fürchteten, dass ich meine Macht anhand von Größe und Stärke ausnutzen würde? Doch dies erledigte dann meine Oma. Sie tat es arglos, von meinen Dialogen ahnte sie nichts. Und selbst wenn, wäre sie davon unbeeindruckt geblieben. Die Schnecken verspeisten ihren Salat und andere Nutzpflanzen. Jetzt lag ein Schlachtfeld vor mir, und die inneren Organe der Schnecken zerflossen in allen Farben auf dem Beet und dem Gehweg. Eindeutig Lebewesen! Wenn es diesen Bibel-Gott gab, dann sollte er doch immer auf der Seite der Schwachen sein!? Wenn wir sein Werk zerstörten, blieb mir nur die Schlussfolgerung, dass wir nicht göttlich waren, Gott aber benutzen, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Das Dharma der Schnecke, satt zu werden, wurde ihr zum Verhängnis, und sie wurde dafür mit dem Tod bestraft. Das hatte sie nun davon, die Schnecke.
Meine Oma musste Recht haben, sie war ja schließlich erwachsen, und Erwachsene taten immer das Richtige. Meine Gedanken kreisten, und ich konnte diese Angelegenheit nicht einfach so hinnehmen: Schnecken waren in dem Gebet also nicht eingeschlossen. Wenn der liebe Gott alles erschaffen hatte, wäre dann pures Sein nicht auch okay? Auch ohne Kniefall in der Kirche? Ich verstand es nicht. Oma-Nacht für Oma-Nacht verbrachte ich wach neben ihr im Bett, und hatte furchtbare Angst, dass, wenn ich weiter alles in Frage stellen würde, der über dem Bett in einem schweren Goldrahmen aufgehängte Jesus mitsamt seinen Jüngern auf mich fallen würde.
Jesus war Gottes Sohn, und Gott ein strenger, unnachgiebiger Vater, der auch noch alles sah. An Wohlfühlatmosphäre war da nicht zu denken. Die Axt der Rache konnte jeden Moment gezückt werden. Nicht richtig geglaubt, und schwupps konnte man eine dieser unzähligen Krankheiten bekommen, die einem dann nur recht geschahen. Bereits als Kind hatte ich schon soviel falsch gemacht, dass ich mich nicht auf sein Erbarmen verlassen wollte – aber auch meine Zeit nicht weiter mit dem Versuch vergeuden wollte, ihm durch Gebete, geflochtene Zöpfe, Kniefall oder düstere Mine zu gefallen. Dann sollte er doch das Jesus-mit-seinen Jüngern-Bild von der Wand fallen lassen! Wenn ich es ihm nicht recht machte, würde er mich ja sowieso eher früher als später umbringen. Im Zweifel war ich klüger als er – ich erkannte wenigstens, dass Schnecken auch Lebewesen waren. Fast erleichtert nahm ich wahr, dass Jesus, das ans Kreuz-genagelt-werden nicht überlebte, zumindest nicht in Menschengestalt. Aber nun kam mein schlechtes Gewissen dazu. Der allwissende Gott erkannte bestimmt, dass ich über den Tod seines Sohns irgendwie erleichtert war. Wie konnte ich nur meine Gedanken vor Gott schützen? Vielleicht wie der Schwabe, der das Fleisch in der Maultasche versteckt? Konnte Gott nicht einfach tot umfallen, und alle Menschen würden erleichtert und in Frieden weiterleben?
Doch abgesehen von diesen Erlebnissen und Gedanken waren die ersten sechs Jahre meines Lebens wunderbar. Ich war in einem Kindergarten, in dem man essen durfte, wann man wollte beziehungsweise Hunger hatte – und jeder für sich. Das war anarchisch, aber vernünftig. Ich stellte dieses System der Freiheit nie in Frage. Dann siedelten meine Eltern in einen neuen Ort um, und ich mit. Schönaich! Die Möglichkeiten, ein Veto einzulegen, sind für Kinder eingeschränkt. In dem Jahr, das ich im dortigen Kindergarten verbrachte, musste ich mich ab sofort an gemeinsame Essenszeiten halten. Mit Gebet! Meinen Schauer des Unwohlseins konnte ich mangels Vokabular nicht in Worte fassen. Der erste Wettbewerb, wer seine Mandarine schöner schält, war auch gleich mit gebucht. Gemeinschaft war die Kastration meiner Freiheit! Der Weg zum Dasein als komischer Einsiedler nahm weiter Gestalt an. Damit ich aber noch mehr Kontakt in Schönaich bekäme, schlug man vor, dass ich ab sofort in die Kinderkirche gehen sollte. Schneller als ich gucken konnte, stand ich sonntags zu einer unchristlichen Uhrzeit auf, um etwas später abwechselnd von der Kirchenbank aufzustehen und mich Sekunden später wieder hinzusetzen. Reime in depressivem Gemurmel gingen mir zum einen Ohr rein und zum anderen raus. Ich starrte auf die Kirchenfenster und kannte bald jeden einzelnen Mosaikstein. Lachen und Lebensfreude mussten vor der Kirchentür abgegeben werden und ließen sich danach auch nicht mehr so schnell finden. Das Konzept von Kirchen schien mir nicht besonders lebensbejahend.
Aber wie interessant: Meinte der Pfarrer doch eines Tages, dass man sich kein Bild von Gott machen sollte. Endlich ein Erwachsener, der nicht dumm war. Wenn der liebe Gott nämlich wirklich lieb war, wäre er doch pure Liebe, und wir Menschen hätten die Pflicht, diese zu vermehren. Und während ich Hoffnung schöpfte, blieb mein Blick am Kirchenschiff-Bild stehen. Gott hielt seinen Sohn, den gekreuzigten Jesus, und schaute mich vorwurfsvoll an. Der Tod Jesus war doch wie gesagt nicht schlimm – schließlich ist er gestorben, bevor er so werden konnte wie sein Vater – und laut Kirche ja dann doch, um unsere Sünden auszumerzen. Meine Gedanken konnte ich nicht in der Maultasche verstecken. Ich war enttäuscht. Auf dem Bild war ganz klar zu sehen, dass Gott nicht als Liebeswolke friedlich umherzog.
Zum Abschluss des Gottesdienstes ging das Opferkörbchen durch die Reihen, und jeder begutachtete, was sein Vorgänger so eingeworfen hatte. Nun, ich bekam immer fünfzig Pfennig von meinen Eltern. Die Mädchen mit den karierten Röcken und den geflochtenen Zöpfen warfen zwei deutsche Mark hinein. Schon wieder Wettbewerb! Die Wertigkeit des Einzelnen war auch im Kirchensystem klar geregelt! Aber ich war schließlich auf meinem Weg, ein komischer Kauz zu werden, der jeglicher Gemeinschaft nichts Gutes abgewinnen konnte. Jeder Baum und jedes Tier verstanden mich besser. Wo meine mir noch fehlenden Worte mich fast in die Ohnmacht trieben, da konnte ich bei anderen Lebewesen einfach durchs Herz sprechen. Aber sogar mit Vierzehn hatte ich noch nicht den Mumm, mich als Einzelgänger zu outen. Als noch nicht ausgereifte Persönlichkeit hielt ich das Hamsterrad weiter in Schwung und legte meine Tarnung noch nicht ab: ich ließ mich konfirmieren. Sollte ich als einzige ohne Stereoanlage dastehen? Was würden die Leute nur reden? Und so stand ich im Samtanzügchen im Kirchenschiff unter dem vorwurfsvollen Blick von Gott, der seinen toten Jesus vor sich hielt, und sagte brav mein auswendig erlerntes Sprüchlein auf.
Mittlerweile bin ich älter – so alt, dass ich den Vorzug genieße, meine Meinung auch allein vertreten zu können. Es ist nicht immer leicht, aber diese Freiheit gebe ich nicht mehr her. Einen Wettkampf rieche ich schon meilenweit gegen den Wind – und bin draußen! Die Mandarine wird so geschält, wie es mir passt.
Der liebe Gott ist wieder meine Liebeswolke aus all den guten Energie-Molekülen der Menschheit und das Wunder der Natur: die Fügung, die Verkettung, die Symbiose – und alle Lebewesen dürfen mitmachen und dabei sein. Die Bezeichnung Gott ist dafür allerdings nicht meine erste Wahl. Aber ich kann damit leben, wenn andere darauf bestehen.
Auch betrete ich hin und wieder eine Kirche und bin gefesselt von den Menschen, die diesen Ort aufsuchen, sich hingeben, meist Halt suchen. Ich picke mir oft einen einzelnen heraus, spüre die Schwere auf seinen Schultern, nehme ihm für eine kurze Zeit etwas ab, atme für ihn, öffne mein Herz weit, gebe all mein Mitgefühl, und verbinde mich. Das ist das, was ich im Laufe der Zeit unter Gemeinschaft verstanden habe. Sobald eine Gemeinschaft in Liebe verbunden ist, ist ihr Sinn erfüllt.
Die Yoga- und die Kirchengemeinde haben aus meiner Sicht einiges gemeinsam: beide halten für ein paar Momente das Hamsterrad an, in dem wir uns sonst bewegen. In beiden nehmen wir uns Zeit für die Innenschau und besinnen uns auf unsere Bestimmung. Beide Systeme leben von der Gemeinschaft, um das Gute zu vermehren. Und in beiden darf man darauf hoffen, dass auch ehrenamtliche Arbeit geleistet wird – und sei es nur mal eine Umarmung, die dringend benötigt wird.
Im Yoga sind alle Religionen willkommen. Yoga macht aus uns bessere Menschen – aus einem christlichen Menschen einen besseren Christen, aus einem hinduistischen Menschen einen besseren Hindu, aus einem muslimischen Menschen einen besseren Muslimen – um nur die Großen zu nennen.
Religion darf nur eines nicht: Furcht lehren!
Nimm Dir den Gott, das Objekt, das Abstrakte, dem Du Dich hingeben kannst, nach dem Du Dich ausrichten kannst. Diese Auswahl bereichert Dein Leben und unterstützt Dich, Deinen Weg zu gehen. Your personal Jesus – im Yoga Ishvara genannt.