Das saure Brot und die süße Julia
Meine Kindheit in den 70ern und 80ern war quietschvergnügt und bunt. Der Schulweg war von Kaugummi-Automaten gesäumt, wo es diebischen Spaß bereitete, sich mindestens eine Kaugummikugel mit schrill buntem Zuckerüberzug rauszulassen, und wenn man den Automaten richtig zu klopfen wusste, kamen vielleicht sogar zwei Kugeln raus. Die runde Zuckermasse bahnte sich dann ihren Weg, sichtbar durch die angegilbte Plexiglasscheibe, über den versifften Ausgang und musste unverpackt hinter der unhygienischen Klappe herausgefingert werden. Vielleicht war es sogar ein Segen, wenn die Kugeln zuerst auf dem Asphalt landeten und die Bakterien sich noch am Teer zwischen Zigarettenstummeln und Hundekot abrollen konnten.
Knallige Süßigkeiten und Convience-Essen wurden uns als Lebensmittel verkauft – und sogar zielgerichtet als Belohnung, ab und zu auch als Bestechung eingesetzt. Erst recht konnte man nicht widerstehen und wurde zum Konsum angehalten, wenn noch Sticker oder kleine Plastikfiguren als Beigabe das ohnehin verführerische Süße köderten. Gegen die innere Werte – nicht vorhandene Nährstoffe, Zuckeranteil, Fette, Suchtstoffe –, aber auch die äußeren Werte – ein Zuviel an Verpackung – gab es noch keinen bedeutenden Widerstand. Nur ein paar „verrückte“ und „zurückgebliebene“ Waldorfschul-Anhänger warfen erste Bedenken auf. Gefeiert und geprasst wurde fast jeden Tag. Die Erzählungen der vorangehenden Generationen, wie man mit dem Leiterwagen bis in den Schwarzwald gezogen ist, um von Hof zu Hof eine Kartoffel zu erbetteln, – glücklich der, der kleine schwächliche Skorbut-Kinder zum Mitleid-Erwecken dabei hatte –, kamen einem vor, als reichten sie bis ins Mittelalter zurück.
Unsere Zahnlöcher wurden mit Amalgam gefüllt, und niemals hätte jemand in Frage gestellt, was der Arzt alles so verschrieb. Für jeden Schmerz hatte die Pharmaindustrie eine Pille. Und da mit den Pillen ganz gut Geld zu verdienen war, gab es auch plötzlich unendlich viele Krankheiten, die dieser Pillen bedurften. Ungeschoren kam keiner davon – eine Krankheit war der Mindeststandard. Wir badeten im Konsumzeitalter. Mit Gesundbleiben hingegen war kein Reibach zu machen. Heute weiß man, am gesündesten war die Generation, die für diese eine Kartoffel meilenweit durchs Land ziehen musste. Der Körper des Menschen ist für Bewegung gemacht und für Entbehrungsphasen prädestiniert. In einer Gesellschaft, in der sich die Mangos bis unter die Decke des Supermarktes türmen, und in Anbetracht, dass wir in Europa in einer wirklichen Wohlstandsblase leben, kommt die Askese fast ein bisschen undankbar daher. Es wäre ja auch mal zu schön, das Leben einfach zu nehmen wie es ist und der Fülle zu fröhnen. Der Trend ist leider immer umgekehrt zum Angebot. Und da wir uns gerade im Überfluss befinden, ist attraktiv, wer sich disziplinieren kann – wer nicht jedem Drang nachgeht, seine Zellen und Leitbahnen nicht dermaßen zukleistert, dass kein Mineral vor lauter Schlacken mehr durchdringt, um zu wirken.
Für die aktuelle Erkenntnis „weniger ist mehr“ musste ich keine Bücher lesen. Bei der Buchauswahl über Ernährung müsste ich ohnehin hunderte Leben aneinanderreihen, um diese ansatzweise zu studieren. Besser als jedes Buch ist meine Yogalehrerin Julia. Julia Pistorius. Zumindest lernte ich sie zuerst als Yogalehrerin kennen. Beim ersten Mal machte sie einen etwas strengen Eindruck auf mich. Beim zweiten Mal wusste ich schon, dass die scheinbare Strenge, die sich einfach nur in Genauigkeit der Asanas ausdrückte, einfach nur Liebe ist. Julias Stil erschien mir mutig, über das Niveau anderer Yogaklassen hinausgehend, mit der Bereitschaft verwundbar zu sein.
Julias Yogastil ist an Shadow-Yoga angelehnt, eine Mischung aus Tai Chi, verschiedenen Kampfsportarten, Tanz und natürlich Yoga. Da Shadow-Yoga wieder so ein geschützter Name ist, wird er nicht kommuniziert, aber man kann in Julias Stunden generell darauf gefasst sein, dass sie Shadow-Yoga unterrichtet. Vermutlich ist es nicht der Yogastil meiner ersten Wahl, Julia als Mensch ist es.
Julia kann Körper lesen! Sie kann ganz plötzlich im Unterricht hinter einem stehen, das Gefühl übertragen, dass sie für ein paar Momente in den Atem ihres Schülers schlüpft, um dann ganz genau zu erkennen, wo die Wurzel des Problems ist. In jeder Stunde lernte ich etwas Neues von Julia dazu. Nie war sie oberlehrerhaft, immer mit dem Gespür, wie aufnahmebereit ich war, und wenn ich eine andere Meinung hatte, wollte sie diese wissen. Sie hörte zu. Der Austausch machte Spaß und ich bekam schnell Lust, mehr von ihr zu lernen.
Über Yoga hinaus (eigentlich beinhaltet ja Yoga alle Bereiche des Lebens, aber um mal bei dem westlichen Verständnis von Yoga zu bleiben) lernte ich von Julia viel über das Thema Frausein, den Umgang mit sich selbst während des weiblichen Zyklus. Ich bin gerne Frau, aber alles was mit Apana-Vayu (irgendwann dazu mehr – um es für hier kurz zu machen: alle unteren Ausscheidungen inklusive Geburt) zu tun hat, interessiert mich nicht so sehr wie erstmal generell als Mensch wahrgenommen zu werden.
Aber am meisten faszinierte mich, was Julia alles zum Thema Ernährung wusste. Kein Wunder! Oder doch? Julia ist Ökothrophologin … um dieses Wort zu lernen, habe ich länger gebraucht als für jede Sanskrit-Vokabel. Nun, studierte Menschen sind generell klug, aber in dem Maße intelligent zu sein, das Wissen Menschen verständlich zu vermitteln, die nicht vom Fach sind, ist höhere Kunst. Vielleicht sogar der Ritt auf einer Rasierklinge.
Kurzum, Julia ist Ernährungswissenschaftlerin. Jedoch ist sie viel mehr Praktikerin als Theorievermittlerin. Was nicht an ihrem eigenen Körper erforscht wurde, wird nicht weitergegeben. Und man merkt schnell, dass es eigentlich dieses tiefgründige, detaillierte Selbststudium ist, das Julia sich angeeignet hat. Und so kennt Julia tropische Schoten, exotische Gewürze, deren Namen man noch nie gehört hat, genauso wie einfachste Pflanzen, die vor der Haustüre wachsen, bis hin zu Pulvern, die alle mit Wirkungen locken und Krankheiten das Fürchten lehren. Da ich schon einige Kräuterwanderungen mitgemacht habe und mich für einen neugierigen Menschen halte, bin ich trotzdem immer wieder verblüfft, wie viele Dinge ich noch nie im Leben gehört habe, die in Julias Wissens-Fundus sind. Sie kennt jede Reinigungstechnik, jede Allergie, jedes Organ, den dazugehörigen Rhythmus, was ihm gut tut, und vor allem, wie es normal ticken soll.
An einer Darmreinigung oder zumindest an einer Natron-Kur kommt bei Julia keiner vorbei. Nichts muss, alles darf – aber sie rät zumindest dazu. Der Darm hat es ja so oder so faustdick in seinen Kurven. Genau in diesen Kurven sammeln sich gerne die Verdauungsreste unserer Überflussgesellschaft an und richten es sich dort gemütlich ein. In diesen Ecken und Kurven werden sie zu richtigen Stubenhockern. Wir kennen das von uns: Wenn es gemütlich wird, und wir den Moment vom Sofa aufzustehen verpassen, gammeln und faulen wir vor uns hin. Statt dass es die ersehnte Erholung wird, wird alles lahmgelegt, vorneweg die Lebensfreude. Seziert man Tote, kann man locker neun Kilo aus den Därmen abschaufeln, was eigentlich schon lange den Ausgang gefunden haben sollte. Es sind auch genau diese Ecken und Kurven des Darmes, wo der Krankheitsherd zu brodeln beginnt, und dümmstenfalls die Krebszellen zu wuchern beginnen.
Es ist manchmal ein Glück, dass der Körper seine Innereien vor uns versteckt und wir unbekümmert und sorglos vor uns hindümpeln. Das Bewusstsein, dass wir ein Wunderwerk sind – sogar im Nichtstun –, besteht gar nicht im Alltag. Im Yoga bekommen wir noch am ehesten eine Idee davon, wenn wir versuchen alles zu aktivieren, auszuwringen, zu beleben oder zu beruhigen. Yoga macht uns auch viel sensibler und feinfühliger. Es kommt einem nicht immer wie ein Vorteil vor, noch weniger zu vertragen als zu den Zeiten vor Yoga. Es bedeutet aber, dass sich das Frühwarnsystem schneller einschaltet, man schneller auf der Hut ist und gegensteuern kann. Vielleicht lernt man sich nie bis in die letzte Zelle kennen, aber man dringt immer feiner durch.
Was habe ich früher an Migräne gelitten. Zu einer bestimmten Zeit sogar jedes Wochenende. Von Freitag bis Sonntag sah ich nur das Weiß des Toilettenporzellans. Die dröhnenden Kopfschmerzen ließen mir keinen Raum, darüber nachzudenken, wie ich mich am effektivsten umbringen kann. Im Nachhinein fiel es mir wie Schuppen von den Augen: ich hatte einen wirklich fiesen Chef, mit Bauchschmerzen schleppte ich mich zum Arbeitsplatz, mein damaliger Partner hatte ein Kind, welches ich lieben sollte – so ist das ungeschriebene Gesetz –, aber nicht konnte. Das schlechte Gewissen tat auch noch sein Quentchen dazu und vor jedem Wochenende, nein schon bei jedem abgeschlossenen Verkaufsvertrag in der Firma, hieß es feiern. Unter Feiern verstand man Alkoholkonsum. Nun, mir fehlt wohl das Enzym, was Alkohol spalten kann. Alkohol ist heimtückisch. Fair wäre, wenn Alkohol sich direkt am nächsten Tag bemerkbar macht … tut er auch, aber mit der darauf folgenden Kopfschmerztablette lagert sich so viel Müll in der Leber und wer weiß noch wo an, dass ein sensibler Körper damit kaum fertig wird und deshalb schubweise arbeitet. Zwei Wochen später ist dem Täter Alkohol auch nichts mehr nachweisbar. Fakt ist, kein Alkohol – keine Migräne mehr. Sehr simpel. Der Job ist auch schon lange gewechselt, genauso wie der Partner, der fiese Chef bleibt als Mahnung, wie man auf keinen Fall werden will. Nur das Kind – das tut mir immer noch leid. Wenn die Welt eine Wunde hat, an der sie nicht heilt, sind es ungeliebte Kinder.
Immerhin, wir sind die Generation, die heilen darf und kann. Wir haben mittlerweile so viele Methoden, uns Aufmerksamkeit und Liebe zu schenken. Aber wer kommt schon auf die Idee, dass er sich um seine Milz kümmern soll, geschweige denn eine hat. Aber wie es so ist: kümmern wir uns um ein einzelnes Organ, kümmern wir uns um alles. Alle Organe, alle Blut- und Nervenbahnen, alles Gewebe ist miteinander vernetzt.
Sind wir übersäuert, und wir sind es alle in den Wohlstandsländern, holt sich der Körper seine Mineralstoffe noch aus den letzten Ressourcen. Im Mundraum wäre der normale PH-Wert 7,0 – er liegt aber meistens bei 6,8. Das ist 0,2 Punkte zu sauer, und Haar und Zähne müssen als Lager herhalten, um die Natur wieder ins Gleichgewicht zu bekommen. Ein Grund, warum Zähne oft demineralisiert sind. An anderen Stellen im Körper sind andere PH-Werte von der Natur vorgesehen. Während Julia als Yogalehrerin in den Atem ihrer Schüler eintaucht, erzählt sie bei ihren ernährungswissenschaftlichen Vorträgen die Reise einer Mahlzeit so anschaulich, dass man sich augenblicklich in ein Stück Brot verwandelt, das seinen Gang abwärts antritt. Das Brot wird vom Körper assimiliert und wird Teil der eigenen Person. Um so besser eigentlich darauf ganz zu verzichten und noch frischere Sachen wie Obst und Gemüse zu sich zu nehmen. Die Energie in den Dingen, die die Natur für uns wachsen lässt und die noch in keinem Verarbeitungsprozess gesteckt haben, ist am wirksamsten.
An jeder Station des Körpers passiert etwas – es ist wie in der Geisterbahn oder einer Autowaschstraße. Beinahe könnte man meinen, dass man perfekt ist, wenn einem die TV-Werbung oder Zeitschriften nicht wieder einen Strich durch die Rechnung machen würden. Um es kurz zu machen: Wir sind so was von perfekt! Auch mit Orangenhaut, allen Makeln, mit Allergien und Empfindlichkeiten – sie bedeuten nur, dass der Körper nach Aufmerksamkeit schreit und Pflege einfordert. Diese ist individuell und vielleicht bedarf es auch tatsächlich eines ganzen Lebens, uns zu erforschen.
Westliche Ernährungsweise lässt viel aus dem Lot geraten, und was „normal“ ist, spüren wir auch nicht mehr. Viele Mineralien, Vitamine, Hormone können gar nicht mehr wirken, weil Schlacken vor den Zellen wie ein Sondereinsatzkommando bei einer Großdemo rumstehen. Viele Nahrungsmittel, auch Biowaren, haben lange nicht mehr die Spurenelemente, die wir brauchen, weil unsere Böden extrem ausgelaugt sind. Wie wir Schlacken abbauen und was wir mit ziemlicher Sicherheit zu uns nehmen müssen, weiß Julia. Erschreckend auch, dass wenn wir mal übersäuert sind, wir mit ziemlicher Sicherheit Pilze im Darm herangezüchtet haben. Diese Pilze geben ihr saures Mileu natürlich nicht freiwillig her, weil es sie so schön weiter gedeihen lässt. Zucker befördert die saure Umgebung. Die Folge: es sind die Pilze, die nach dem Mittagessen nach der Schoki schreien. Da dachten wir, wir sind die klügste und intelligenteste Spezies auf Erden und die Wahrheit ist: wir werden von Pilzen beherrscht. Wer die Macht wieder zurückgewinnen will, wendet sich an Julia.
Julia darf man dann auch richtig Löcher in den Bauch fragen – bei den Socken hat sie es wortwörtlich genommen.