Die Vayus
Auch wenn es affig klingen mag, es fängt mit Hanuman an. Hanuman ist nämlich der Affengott, und er heißt so, weil er ziemlich starke Kinnbacken hat (hanu = Kinnbacken). Ein Hanuman-Biss ist garantiert schmerzhaft, aber für den Hinweis „Achtung bissiger Affe“ ist er zum Glück nicht berühmt-berüchtigt. Seine Qualitäten sind ganz anders ausgerichtet. Ein wunderschöner Epos aus der Ramayana rankt sich um Hanuman – dazu irgendwann mal mehr. Fakt ist, er hat außer seinem starken Kiefer ein paar Superkräfte in sich schlummern. So kann er mit einem Riesensatz von einem Kontinent zum nächsten gelangen. Hanumans Beine sind dabei soweit auseinandergestreckt, dass es einleuchten dürfte, warum der Spagat im Yoga Hanumanasana heißt. Das ist der Spagat, bei dem ein Bein nach vorne und das andere nach hinten gestreckt ist. Der Spagat, der seitlich gespreizt ist, heißt upavista konasana oder samakonasana. Der Gott für den seitlichen Spagat heißt Jean Claude van Damme. Doch zurück zu Hanuman: seine Gene sind nicht von schlechten Eltern.Seine Mutter heißt Anjana (Anjanasana ist stets die Vorbereitung auf Hanumanasana), und sein Vater ist der Wind – Vaju! Und wer macht denn schon schnellere Sätze und Sprünge als der Wind? Ohne Wind gäbe es nur Stillstand.
Der Wind ist so gewichtig, dass man mal ein paar Worte über ihn verlieren darf. Erst der Wind vermag zu bewegen und eine Funktion herzustellen. Wenn unsere Lebensenergie – Prana – nur an einer Stelle im Körper festsitzen würde, wäre kein Nutzen hergestellt. Erst Prana gibt uns Form, Ausdruck und Leben. Unsere Form wird mit Funktionen ausgefüllt, Prana ist der Pulsschlag des Lebens.
Bei dem Gedanken an Wind als Energie in unserem Körper sollten wir aber über die Assoziation von Blähungen hinausgehen. Blähungen sind für Yoga-Übende wohl auch das größte Schreckgespenst. Nach dem Gesetz der Logik entfährt es uns, wenn es im Raum mucksmäuschenstill ist. Und ist es passiert, kann nur noch eine Falltüre, die sich zum Höllenschlund auftut, für Milderung sorgen. Der oben gebliebene Rest der Mannschaft hingegen denkt nur, „Gott sei dank, es passiert auch anderen“. Im Laufe der Zeit lernt man dann aber doch, welche Lebensmittel sich günstiger auswirken und welche weniger.
Aber zusätzlich zu diesem einen Wind, der glücklicherweise aus dem Körper herausfindet, gibt es ja auch noch andere Bewegungen im Körper: wir könnten zum Bespiel gar keine Kinder bekommen, den Akt, der zum Kinderkriegen führt, nicht vollziehen, nicht darüber sprechen können (was in diesem Fall vielleicht als Segen interpretiert werden könnte), wir könnten nicht schlucken, verdauen, greifen, gehen und so manches mehr.
Der Sinn des Lebens und was er überhaupt ist, treibt den kleinen Elefanten von Zeit zu Zeit um. Neue Erkenntnisse werden aber immer wieder gewonnen und verworfen, das Einfache scheint manchmal zu einfach zu sein, dafür, dass wir ein Hirn mit unendlich vielen Windungen bekommen haben. Dann erscheint der Sinn wieder ganz klar, um aber sofort am nächsten Tag hinter einer Nebelwand zu verschwinden. Vielleicht gibt es auch unendlich viele Gründe, und jeden Tag darf der Sinn aufs Neue entschieden werden. Aber eine Sache bleibt bestehen, wie der Fels in der Brandung: auf unendlich viele Arten und Weisen zu sagen, zu zeigen und zu hören, dass man liebt, macht das Leben so viel reicher und lebenswerter. Unser Prana ist dafür verantwortlich, dass wir diese vielen Wege der Äußerung wie auch der Aufnahme finden.
All dieses sind Bewegungen im Körper. Unser Prana wird aufgeteilt in Energieströme. Diese Energieströme nennt man Vayus – wie die Windkraft. Und so verteilen die Vayus unser Prana im Körper und machen uns funktionstüchtig. Also außer Chakren, Granthis, Koshas, Nadis, Gedanken, Emotionen haben wir mit den Vayus noch mehr, das zu uns gehört, aber nicht physisch zu greifen ist. Weder der Röntgenapparat noch das MRT machen dieses feinstoffliche und energetische Zeugs offen sichtbar – bestenfalls die Masse, die diese bewegen (so vielleicht auch die Luft im Verdauungstrakt). Man kann von Glück reden, dass nicht alles physisch ist. Wir wären groß und schwer wie ein Tanker – dafür können unsere energetischen, nicht sichtbaren Seiten bis in den unendlichen Kosmos weiter wachsen und gedeihen, während unser Körper mit seinen Knochen, Organen, Muskeln, Sehnen und Flüssigkeiten uns doch etwas limitiert.
Je mehr und länger Yoga praktiziert wird, desto feinfühliger werden wir, desto eher erahnen wir, wie unsere Normal-Eichung sein könnte oder wie diese nach Tageslaune auszusehen hat. Schließlich richten wir uns ja auch nach Umwelteinflüssen, Jahreszeiten, Gestirnen und Hormonen aus. Im Yoga geht es um unsere Harmonisierung, eine Balance zu finden und vielleicht aus unserem Zellklumpen etwas Feineres zu schmieden. Um Dysbalance zu erkennen, hilft es, sich mit seinem Körper vertraut zu machen und zu wissen, wo welches Vayu sitzt, in welche Richtung es strömt, und wie wir einlenkend Einfluss darauf nehmen können.
Folgende Vayus sind für bestimmte Funktionen im Körper kartographiert:
- Prana Vayu – das fängt jetzt gleich mal ungünstig an, da Prana ja außer Lebensenergie auch „Atem“ heißt. Der Begriff hat zwei Bedeutungen – typisch Yoga. Also ist Prana Vayu die Kraft, die hinter unserem Atemsystem steckt. Richtig in die Gänge bekommen wir dieses System durch Pranayama, die Atemtechniken. Zusätzlich dazu, dass sie uns vor Krankheiten wie Asthma und Bronchitis bewahren, können wir das Prana subtiler werden lassen. Fangen wir erstmal an, einen „Schluck“ Prana zu genießen, werden wir schnell zum Somelier. Zuerst wird vielleicht eine würzige Holznote wahrgenommen, dann die Leichtigkeit einer unreifen Birne, die mit Morgentau benetzt ist. Je höher wir unser Prana die Chakren emporklimmen lassen, desto eher erreichen wir das Ziel Ojas – das feinste Resultat von Prana. (Ojas hat übrigens in einer anderen Wissenschaft, dem Ayurveda, wieder eine andere Funktion – es ist zum Verrücktwerden). Ojas klingt schon wie eine Delikatesse. Aber mit viel Erfahrung wird jeder Somelier noch ein bisschen besser.
- Apana Vayu – der nach unten gerichtete Pranafluss. Zum Beispiel die Geburt, aber natürlich auch Urin und Stuhl. Klingt vielleicht unappetitlich, aber es ist doch faszinierend, was unser Körper an Leistung vollbringt und wie es genau weiß, was zu verarbeiten ist und was er loswerden möchte, ohne dass wir daran einen Gedanken verschwenden müssen. Natürlich zählt auch die Ejakulation und die Menstruation dazu. Apana Vayu sitz also im unteren Bauchraum, und alle Asanas, die für unser Wurzel-Chakra optimal sind, sind es auch für Apana Vayu: Tadasana, Malasana, Vorbeugen und alle stressabbauenden Übungen.
- Samana Vayu – da kann das Prana mal im Kreis rotieren, denn es ist für unsere Verdauung und unseren Stoffwechsel zuständig. Und so wild wie diese Arbeit uns waschmaschinengleich vorkommt, so sehr strahlt das Wort doch wieder Ruhe aus: sama = gleich – der Moment, der zwischen Einatmung und Ausatmung liegt. Dieser Moment birgt sämtliche Magie. Zum Verdauen, sei es Nahrung oder Emotionen, sollten wir uns auch immer eine Pause gönnen, denn unser Körper betreibt in dieser Zeit Höchstleistungssport.
Hinkt das Samana Vayu dem Zeitplan hinterher, können wir vor allem mit Twists unterstützen, Core-Übungen, unser Udyana Bandhu aktivieren und natürlich eine Bauchatmung aus dem Yoga-Werkzeugkasten zaubern. - Udana Vayu – damit geben wir unserer Form Charakter, denn Udana Vayu ist für unseren Ausdruck zuständig. Habt Ihr schon mal nachgedacht, wie faszinierend es ist, dass mit Hilfe von Stimmbändern verschiedene Laute entstehen, dadurch Wörter und Sätze, und das Gegenüber das alles sogar versteht? Udana Vayu sitzt im Kehlkopf und bedeutet „nach oben gerichtet“. Und Sprache ist ja nach oben gerichtet. Einen handfesten Streit unter Yogalehrern habe ich schon miterlerbt, ob das Sich-Übergeben zu Apana Vayu gehört, weil es eine Ausscheidung ist – oder eben zu Udana Vayu, weil es nach oben gerichtet ist. Leider kann der kleine Elefant da nicht helfen und findet es sogar schön, dass eben nicht alles sonnenklar ist. Um Udana Vayu feiner werden zu lassen, ist Meditation die sinnvollste Übung. Die Kraft von Udana Vayu verbergen sich auch das Nervensystem, der Schlaf und der Austritt aus der Körperhülle – auch Sterben genannt.
- Vyana Vayu – die sich verbreitende Luft. Vyana Vayu wirkt überall im Körper, logisch dass dadurch der Blutkreislauf am Zirkulieren gehalten wird und Bewegungen erst ermöglicht werden. Man könnte sagen, es ist das Königs-Vayu, weil es auch die vier weiteren Vayus reguliert. Außerdem transportiert Vyana Vayu auch unsere Gefühle und Gedanken. Zum Harmonisieren dieses Vayus dürfen alle Asanas wie eine Meditation ausgeübt werden – allen voran natürlich Shavasana.
Wir wären nicht im Yoga wenn es jetzt nicht auch noch zu den fünf Haupt-Vayus (Mahavayus) fünf Neben-Vayus (Upavayus) gäbe. Aber man darf sich ja auch noch Themen für später aufheben, derweil geht der kleine Elefant mal auf Selbsterkundung durch In-sich-hinein-fühlen.
Und nach Gefühl hat der kleine Elefant auch seine Harmonisierungs-Asanas und Pranayamas den Vajus zugeordnet. In der Literatur und auf allen weiteren Forschungspfaden finden sich wohl keine widersprüchlicheren Aussagen als über die Vayus – vielleicht ein Beweis dafür, dass wir doch alle individuell sind und uns unterschiedlich wahrnehmen.