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Yoga – jetzt erst recht!

16. Mai 2020Beside the mat Standard

Wie war es vor Corona? Ich rollte meine Matte aus, und die Worte des Lehrers drangen an mein Ohr. Ich liebe es, am Anfang der Yogastunde philosophisches Futter zu bekommen. „Veränderung“ ist ein gern genommenes Thema – es lässt sich gut ausschlachten: mit jedem Atemzug kann Veränderung Einzug halten, wir als ganze Person können uns verändern, die Gesellschaft kann sich verändern, die wachsende Yogagemeinde trägt einen großen Anteil an gesellschaftlicher Veränderung.

Wir Yogis so: Ernährung gesund und ethisch, check! Immer weniger Müll und Plastik, check! Weniger Flugreisen – es sei denn, es ist das Yogaretreat auf Bali, check! Weniger Konsum – es sei denn, es ist die funky Yogaleggings, check! Spende an Flüchtlinge, solange sie in ihren Zeltstädten bleiben, check! Besser werden durch Yogaworkshop, check! Erleuchtung und Erkenntnis, on my way, check!

Und dann noch ein Wochenende im Yogaretreat Elmau – fürs Besserwerden ist der vierstellige Betrag pro Nacht doch ein Klacks, Yogalehrerausbildungen für fünfstellige Beträge. Das muss schon sein, wenn man höher und weiter kommen will. Wir sind reich, wir sind trendy, wir sind gebildet, wir entwickeln uns sprituell weiter.

Yoga ist eine große Chance, ganzheitlich zu heilen, inmitten einer Generation, die das erste Mal Frieden erlebt. Es könnte glatt sogar Bestimmung und Pflicht für uns alle sein, die Last und den Kummer loszulassen, den die vorherigen Generationen auf uns gelegt haben. Wissen zu erwerben, wie wir funktionieren, damit wir es besser, reflektierter oder gegebenenfalls auch gar nicht machen. Yoga ist ganzheitlich, weit mehr als sportliche Körperertüchtigung, sondern eine Geisteshaltung und Entwicklung. Und auch wenn wir im Westen den yogischen Ursprung aus Indien nicht eins zu eins adaptieren können, können wir uns doch kulturell an das Grundgesetz halten: jeder Mensch ist gleich viel wert, und Yoga ist für alle!

Jetzt, wo die systemrelevanten Berufe in den Vordergrund rücken, fällt doch auf, dass sie im Yogaunterricht fast komplett fehlen. Wo sind die Paketzusteller, die Supermarktverkäufer und Reinigungskräfte? Wo sind die Bewohner aus den Hochhaussiedlungen, die für ihr Kind das Fahrrad beim Quelle-Versand abstottern müssen? Oder sie stottern sie gar keinen Kredit ab, weil die Schufa sie schon aufgrund ihrer Wohngegend als nicht kreditwürdig eingestuft hat. Yoga ist wirklich für alle?

Und jetzt Corona. Yogalehrer und Studiobetreiber haben Angst wie noch nie, das ganze Netz ist in Aufruhr. Zwei Lager haben sich gebildet. Davor waren es viele Fraktionen, da die Yogastile nicht unterschiedlicher sein könnten und das Bemühen, als Einheit in der Politik Gehör zu finden, nicht besonders groß war. Dabei gibt es rund drei Millionen Deutsche, die Yoga praktizieren, und über 6000 Yogaschulen – laut den Zahlen von 2016. Da hätte sich eine Lobby schon längst bilden können. Jetzt geht es um die Existenz und das nackte Überleben. Die meisten Yogalehrer haben ihre vorherigen sicheren Berufe aufgegeben und sich ihre Berufung auf dem zweiten Bildungsweg erarbeitet, weil dies ihnen endlich Sinn und Freude brachte.

Das erste Lager akzeptiert die aktiv Einschränkungen und hat sich sämtliche flexiblen Unterrichtskanäle erschlossen, um jegliches Risiko, dass sich das Virus im Studio übertragen könnte, zu verhindern. Daraus ergeben sich sogar Vorteile – zum Beispiel, dass Schüler überregional an den Online-Kursen teilnehmen. Das zweite Lager möchte so schnell wie möglich seine Studios wieder eröffnen und sein altes Leben zurück.

Jetzt werden die Stimmen beider Lager immer lauter und aggressiver. Provozierende Artikel, Polemik und höhnische Videos auf Social Media, mit denen das eine Lager dem anderen vorführen möchte, wie wenig der Denkapparat des anderen gediehen ist. Jeder abgesetzte Post macht etwas mit uns, wühlt uns auf. Jedoch scheint friedvolle Kommunikation nicht die größte Stärke in Yogakreisen zu sein – vielleicht könnte man dazu mal einen Workshop machen. Das Virus hatte das Potenzial, uns zu vereinen. Jetzt sind wir gespalten.´

Dabei fällt auf, dass die, die ihr altes Leben so schnell wie möglich zurück haben wollen, zumeist jene sind, die wortstark über Veränderung und Transformation gesprochen haben. Das ist ein Stück weit verständlich, schließlich geht es um die eigene Existenz und um die Berufsausübung, in die so viel Geld, Leidenschaft und Liebe gesteckt wurde. Für die eigene Verzweiflung allerdings den vermeintlich hoffnungslosen Yogaschüler vorzuschieben ist aber aus meiner Sicht unlauter. Im Moment sind nämlich die Rollen vertauscht: Yogaschüler scheinen ihre Lehrer und deren Studios zu trösten und Halt zu geben, und auch nach Kräften zu spenden. Währenddessen nehmen viele Yogalehrer Fahrt auf und streben blindlings eine Wiedereröffnung an. Auch ohne herausragende Mathe-Kenntnisse: mit den gerade mal an einer Hand abzählbaren Schülern, die aktuell erlaubt sind – und das nur outdoor – ein Studio zu halten, dürfte finanziell nicht zu stemmen sein. Und selbst diese weniger Teilnehmer müssten sich auch erst mal finden. Es ist auch nicht in Ordnung zu behaupten, das Immunsystem würde durch Yoga gefördert. Sollte das Virus im Studio die Oberhand gewinnen, fördern Pranayama und Schweiß erst recht die Verbreitung. Es gipfelte darin, dass ich in einer Petition las, die Schüler würden auf ihrer Couch verfetten. Ist Yoga eine Abnehmkur? Ich empfand diesen Aufruf als sehr verletzend, und so dürfte es wohl auch denen gehen, die dem Schönheitsideal von Instagram-Yoga nicht entsprechen, und trotzdem an Yogakursen teilnehmen. Mut ist sehr viel mehr Yoga im Blut als tägliches Körpertuning aus Gewohnheit. Yoga ist für alle?

Es ist gut, dass man zusammenfindet und eine gemeinsame Stimme an die Politik zu richten. Yogalehrer sollen nicht um ihre Existenz fürchten müssen. Wenn sie nicht im Streit sind, bringen sie einen erheblichen Mehrwert in unsere Leben. Yogalehrer sollten unbedingt finanzielle Unterstützung, Gehör und Aufmerksamkeit erhalten – genauso wie viele andere Berufsgruppen. Von allen yogischen Lektüren finde ich das Kinderbuch „Frederick, die Maus“ das gelungenste, um Yoga auf einen Nenner zu bringen. Es vermittelt, das es nicht um Horten von Toilettenpapier und Dosenfutter geht, sondern dass wir in schlechten Zeiten uns die größtmögliche Freiheit, Wärme und Farben dank unserer Gedanken und Geisteskontrolle bereiten können.

Der Schüler, der schon länger praktiziert, wird auch zu Hause allein weitermachen. Denn dazu ist Yoga schließlich da: seine Homepraxis zu finden. Yoga geht über einen Studiobesuch hinaus.

Yoga-Anfänger bleiben in der Homepraxis eventuell nicht am Ball, vielleicht weil sich noch nicht die ersten Benefits durch Yoga eingestellt haben. Und manch eine Technik mag seltsam anmuten. Aber der Schüler muss da abgeholt werden, wo er sich befindet. Dann geht es eben etwas langsamer. Es ist doch egal, wann Yoga in das Leben tritt.

Wäre es nicht besser, wenn die Lehrer ihre schlauen Schüler in ihre Überlegungen mit einbinden und den Mut aufbringen, zuzugeben, dass über die Ansteckungswege des Virus noch nicht alles bekannt ist? Im schlimmsten Fall müssen wir auch akzeptieren, dass es nie wieder die alten Zeiten gibt, denn Leben ist Veränderung. Wenn Lehrer wie auch Schüler Zuversicht ausstrahlen, können sie sich gegenseitig stärken.

Jenseits der Yogablase existieren doch Menschen, die sich auch durch Tanz, Fitness, Joggen und Spaziergänge gesund und fit halten. Ganz ohne wissentliche Yogapraxis ernähren sie sich gesund und ethisch, unternehmen weniger Flugreisen, konsumieren weniger. Sie gelangen zu denselben Erkenntnissen über das Leben, eben nur ohne Sanskrit. Bestimmt hat Yoga schon das eine oder andere Leben gerettet, doch systemrelevant ist die Studiopraxis nicht.

Das Corona-Zeitalter birgt viele Chancen: Zeit der Entschleunigung, Zeit zum Fühlen und Erleben. Von mir tropft der Stress mit jedem Tag mehr und mehr ab. Meinen Kleinwagen tanke ich nur noch alle vier Wochen statt alle vier Tage. Im Büro werden keine Firmenreisen mehr gebucht, der Austausch funktioniert telefonisch. Keine hektischen An- und Abfahrten, weniger Deadlines. Mehr Lesen, mehr Löcher in die Luft gucken. Mehr Spaziergänge. Mit jedem Aufenthalt in der Natur werden meine Sinne schärfer, ich fühle mich ungetrennt, verbunden, und in meiner Mitte. Es wird ruhiger – auch in mir. Jeglicher Atemwiderstand hat sich aufgelöst. Ich mache nicht Yoga, ich erlebe Yoga!

Die Zeit ist jetzt da, global gewinnt die Natur zurück. Da sollten wirtschaftliche Interessen nicht vorne anstehen. Wir machen bereits alle Yoga, mehr oder weniger bewusst, und stellen uns den Ängsten der Zeit. Jetzt müssen nur noch ein paar Yogalehrer mehr mitmachen.

Die Zeit ist eine Aneinanderreihung von Momenten, Krama genannt. Momente die wir gestalten können, über die wir die Entscheidung haben, ob sie uns nähren oder verzweifeln lassen. Ein Asana wird gefüllt mit einer Einatmung und geht fließend mit der Ausatmung in das nächste über, ohne Anfang, ohne Ende: Vinyasa Krama. Die Ordnung. Eins ums andere, mit vollem Erleben. Alles zu seiner Zeit, und nicht alles liegt in unseren Händen.

atha yoga-anuśāsanam

Jetzt beginnt Yoga!

 

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