Die Ashramas – die vier Lebensphasen

Wenn im Leben eine Sache konstant ist, ist es die Veränderung!
Die Zeit ist nicht sichtbar – erst wenn sie in einen Rhythmus gebracht wird, wird sie für uns erlebbar. Der Rhythmus unseres Herzschlages, der Rhythmus von Tag und Nacht, der Jahreszeiten. Mit der Wiederholung einer Frequenz lernen wir auch unsere Handlungen und Emotionen kennen und mit ihnen umzugehen. Wir werden weiser. Jeder hat wohl schon die Erfahrung gemacht, dass so ein Montag im Büro sich in die Unendlichkeit ziehen kann. Genauso ahnen wir schon, dass unsere gesamte Lebensspanne nur wie ein Wimpernschlag scheinen mag, wenn wir unseren Körper im Sterbebett verlassen.
Es liegt an uns selbst, die Frequenz des Lebens so zum Schwingen zu bringen, dass aus einem Vor-sich-hin-Vegetieren eine erfüllte Zeit wird. Aus purer Frequenz Musik wird. Ein sanft schaukelnder Wellengang zum Durchatmen ist zwischendurch heilsam – aber früher oder später schlagen die Wellen in jedem Leben hoch. Ein Außenimpuls wie das Corona-Virus taucht unangemeldet auf und tritt ohne anzuklopfen in die Türe. Unser Geist hat sich vielleicht schon ausgemalt, wie wir ungebetenen Gästen einfach den Kaffee über den Schoß schütten. Aber manchmal kommt uns der Gast zuvor. Im positiven Sinne könnte man behaupten, dadurch wird unser Emotionsradius vergrößert. Zumindest werden unsere Grenzen erweitert oder auch das noch Ertragbare durchbrochen. Surfen wir immer auf der gleiche Welle, können wir niemals über uns hinauswachsen. Manchmal müssen wir aber selbst dafür sorgen, dass die Welle nicht als Außenimpuls kommt, sondern von uns aus entfacht wird. Höhere Berge erklimmen und in tiefe Täler sinken. Es sind die Downs und die Peaks der Sinuskurve, die sich als unvergessliche Erlebnisse in unser Leben ritzen und uns zufriedener auf dem Sterbebett hinterlassen. Ein Körper gefüllt an Leben!
Dinge, die das erste Mal passieren, können uns wie ein Erdbeben erschüttern und in Aufruhr bringen. Wir verlieren die Bodenhaftung zu Mutter Erde und wirbeln im Salto durch die Luft. Wann und wo wir wieder aufschlagen, und ob wir dabei auf den Füßen landen, ist ungewiss. Wir sind out of control. Keine Versicherung der Welt hilft. Bei Versicherungsverträgen findet sich auf der Rückseite von Seite 14 im Paragraph 29b, dass in genau dieser Situation der Schadensfall nicht erstattet würde. Aber allein eine Versicherung zu haben, gibt uns einen Placebo-Effekt von Sicherheit. Wenn ich mir das Wunderwerk Leben betrachte und wie wir alle durch eine Kette von glücklichen Umständen verbunden sind (vielleicht sind es auch Zufälle, wenn es die denn gibt), bin ich immer ganz geflasht, dass ich immer noch auf diesem wunderbaren Planeten umherlaufe und Menschen aus verschiedenen Generation begrüße. Da sich eine Ungewissheit im Nachhinein oft in Wohlwollen auflöst, sollten wir unseren Wirbelflug vielleicht auch genießen – auch wenn er sich nicht zu vermeintlich Gutem auflöst. Wir hätten einen schöneren Moment erlebt, der uns nährt und damit eine schönere Erinnerung. Natürlich leichter gesagt als getan.
Unser Leben nach yogischer Lehre ist in vier Phasen aufgeteilt, die vier Ashramas. Jede dieser Phasen erleben wir mit unserem sterblichen Körper nur einmal. Und jedes Mal, wenn wir in eine neue Phase übergehen, ruckelt es erstmal wie beim Gangwechsel in einem alten Auto. Diese Lebensphasen sind nach den unterschiedlichen Grundbedürfnissen im Leben eingeteilt, und diese ändern sich. Vom sich erst mal bewusst Machen, dass man ist, sich selbst zu behaupten und einen festen Stand zu finden, als nächstes dann für andere zu sorgen, dann sich nach innen kehren und sich schließlich darauf vorzubereiten, dass das Leben endlich ist. Mit fast Ende 40 muss ich manchmal feststellen, es kann sich viel an einem einzigen Tag so viel ändern. Und doch dachte man als Kind, dass Erwachsene erwachsener sind. Doch im Kern bleibt immer eine Grundstruktur des Kindes, das man einmal war. Wir lernen Moral und Verhaltensregeln, werden gesellschaftsverträglicher oder auch stromlinienförmiger. Die Haut altert, das Leben schwingt seinen Zeichenpinsel. Die Höhen und Tiefen kerben sich in den Charakter und das Gesicht ein, Eventuell stetzten wir hier und da ein paar Betonungen absichtlich und legen ein unangepasstes Verhalten an den Tag, entweder um gesehen zu werden oder im positiven Sinne, um etwas zu bewegen, zu verändern und alte Türen aus den Angeln zu heben.
Bis Mitte Zwanzig lernen wir am schnellsten. Diese Phase nennt sich Brahmacharya. In der Kindheit – auch wenn wir in diesem Alter vielleicht sogar viel mehr spirituelle Erlebnisse haben als in fortgeschrittenen Jahren, haben wir die Chance, alles ohne bestehende Erfahrungswerte aufzunehmen und ohne Filter darauf zu reagieren. Wir müssen noch ausloten, wo wir im Leben stehem. Das Augenmerk ist sehr stark auf die eigene Person gerichtet, das hat die Natur so eingerichtet. Und das ist auch gut so. Die Fähigkeit, uns in andere Lebewesen und in deren Lebensphase hineinzuversetzen, ist noch im Entwicklungsstadium. Noch erahnen wir nicht, wie stark wir selbst getroffen werden können. Sicher ist uns allen ganz gut in Erinnerung, wem wir aus Kindertagen noch eine Entschuldigung schulden für die eine oder andere Gemeinheit. Oder wir erinnern uns, dass uns übel mitgespielt wurde. Aus genau diesem Grund werden in vielen Ländern Kindersoldaten angeheuert. Denn sie wissen nicht, was sie tun. Das Trauma kommt dann erst Jahre später, wenn sich für das Geschehene die Begriffe langsam formen. Was uns als Kind und Jugendlichem vorgelebt wird, wird auch das Eichmaß „normal“. Der Körper jedoch vergisst nie, und jedes negative Erlebnis lagert sich tief unter der Haut ein. Intuitiv hätten wir gewusst, dass was uns angetan wurde oder was wir weitergeben nicht richtig ist. Aber die Intuition wird auch ein Stück weit abtrainiert. Als Kinder und Jugendliche sind wir angewiesen auf Menschen, die es gut mit uns meinen. Überschreiten Kinder den ethischen Radius ihres Spielraums, sollte eine kluge Person ihre Weisheit weitergeben und vor allem selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Meistens ist das die Rolle der Eltern. Natürlich sind Kinder keine wütenden empathielosen Barbaren. In der Regel verstehen sie recht schnell, dass sie das, was sie nicht möchten, dass man es ihnen antut, genauso wenig anderen zuteil werden lassen sollten. Neulich begenete mir Charlotte. Charlotte ist 7 Jahre alt und stellte sich mir im ersten Satz als Vegetarierin vor. Echt jetzt, darf die das? Ich bin es erst im Alter von 16 geworden. Charlotte besuchte letztes Jahr einen Tiergnadenhof und ihre Synapsen kamen zu dem Ergebnis, dass sie Tiere lieber retten wollte als für ihren Tod verantwortlich zu sein. Diesen Zusammenhang zu erkennen, dass die anonym verpackte Bärchenwurst und sei sie noch so lecker, ursprünglich ein Tier war, das leben wollte – genauso wie die Tiere auf dem Tiergnadenhof – und ihn in eine aktive Handlung umzusetzen, ist für ein Kind von 7 Jahren eine verblüffende Leistung. Die Eltern, die hin und wieder Fleisch essen, unterstützen Charlotte und ihrem Handeln. Das ist dann Größe und Moderne.
Die Lebensstadien sind nicht genau bis zu einem bestimmten Alter abgegrenzt – dazu sind wir viel zu individuell. Aber Brahamacharya hält vermutlich bis Mitte Zwanzig an. Genug Zeit, sich ethische und moralische Werte anzueignen und sie mit dem eigenen Herz zu überprüfen.
Die nächste Phase in unserem Leben nennt sich Garahastya. Die Zeit ist gekommen, sich einen Partner zu suchen, an ihm zu wachsen, eine Verbindung herzustellen – symbolisch zu allen Lebewesen. Weil das Wort „alle“ aber unsere Vorstellung bersten lässt, bleiben wir in der kleineren Gemeinschaft. Eine Ehe eingehen, füreinander sorgen, keinen blinden Egoismus weiterverfolgen. Mein Mann – der beste der Welt und unwissenderweise der größere Yogi von uns beiden– formulierte es so schön: Lass uns uns niemals als selbstverständlich nehmen. Bis heute bin ich darüber zu Tränen gerührt. Jede Freundschaft sollte dieses Prädikat erhalten. Gerade in unserer Corona-Zeit gehen Meinungen meilenweit auseinander, Freundschaften entzweien sich, wir sind nicht mal mehr im Ansatz zu einem Gespräch bereit – aber jede Verbindung, die wir einmal eingegangen sind, lässt ein neues Universum entstehen. Ist eine Verbindung zu toxisch geworden, sollten wir uns natürlich abnabeln. Aber bis zu dieser Erkenntnis darf es ruhig ein paar mitfühlende Gespräche geben. Garahastya ist das Stadium, in dem wir zu unseren Kindern und Nachfolgern blicken und zur vorhergehenden Generation. Wir sind bereit, uns in beide einzufühlen. Was steht unseren Kindern im Leben wohl noch bevor? Wie schwer ist es wohl, wenn der Körper immer brüchiger wird?
Ich hatte es neulich so eilig. Termindruck! Viel zu viel Zeit hatte ich wieder verbummelt, meine sieben Sachen zu Hause zu packen: Autoschlüssel, Brille, Turnbeutel. Hatte ich nicht den Tee zum Ausprobieren versprochen, und und und. Ich war zu spät dran und fuhr auch genau so Auto. Und dann musste ich am Zebrastreifen anhalten: ein altes Männlein mit seinem Rollator war erst an dessen Anfang, seine einzelnen Schritte übertrafen wohl nicht die 5-Zentimeter-Marke. Mit all seinen Kräften wendete das Männlein mühevoll seinen Kopf mir zu und hob andeutungsweise seinen Arm, um sich bei mir zu bedanken. Es schüttelte mich, ich zerfloss augenblicklich in einem Meer von Tränen, und mein Herz war von der einen auf die andere Sekunde weich wie Butter. Ob für mich auch mal jemand anhalten wird? Die jüngere wie auch die ältere Generation ist auf unser Wohlwollen angewiesen. Wir müssen uns in Garahastya zähmen, mehr Vertrauen aufbringen, dass alles gut wird, und mehr Weichheit und Mitgefühl walten lassen.
Jetzt nähere ich mich meiner Lieblingsphase: Vanaprasthya. Wörtlich: im Wald leben. Alle Arbeit ist erledigt. Wir haben genommen und gegeben. Mit all unserer Erfahrung ziehen wir uns zurück. Wenn wir uns an unsere Großeltern erinnern: sie hatten kein Interesse mehr, erzieherisch zu wirken, wie sie es unseren Eltern beigebracht hatten oder wie wir um unsere Kinder besorgt sind. Es ist die Weisheit, dass vermutlich jeder seine eigenen Erfahrungen im Leben machen wird und es kommt wie kommt. Gerne anders als irgendeine Versicherung es vorausplanen kann. Mal eine fröhliche Abfahrt, mal ein steiniger Weg – und das obwohl wohlwollende Menschen die Straße ebenmäßig zu teeren versuchten. Gelassenheit und Liebe sind die Samen, die die ältere Generation weitergibt – fast alle Ashramas sind durchlebt.
Je mehr wir merken, dass unser Körper nicht mehr aufzuhalten ist in seiner Lebensfunktion, desto mehr müssen wir uns an die Absprungkante vortasten, um den Schritt vorwärts zu wagen in die ungewisse graue Nebelwand. Fallen wir oder fliegen wir, werden wir in einem neuen Körper geboren, wenn ja welche Erscheinungsform? Werden wir arm oder reich, gequält oder glücklich und frei leben? Wir ziehen uns zurück in unseren innersten unerschütterlichen Kern und bereiten uns darauf vor, alle weltlichen Bindungen zu verlassen. Wir befinden uns im vierten Stadium: Sannyasa!
Und ich bin mir sicher, dass es danach auch noch spannend bleibt!
In diesem Sinne, lasst einen einzelnen Atemzug zum Erlebnis werden und Euch füllen! Von dieser Erfahrung wünsche ich Euch viele!