Ein Harmonium,
ein Harmonium!
Ein Harmonium ist ein Musikinstrument, größer und schwerer als ein Akkordeon, kleiner als ein Klavier. Ohne Luft kommt, genau wie beim Akkordeon, kein Ton heraus. Luft und Atem, der sich in Lebensenergie umwandelt, nennen wir im Yoga „Prana“. Ein Harmonium ist also mit Lebensenergie gefüllt und geht somit weit über einen sachlichen Gegenstand hinaus. Ein Harmonium ist ein Instrument, genauso wie es der Körper und der Geist sind. Gut genährt kommt auch guter Output heraus. Ein Harmonium ist ein Wegbegleiter fürs Leben, wenn man sich erst mal für eines entschieden hat. Und entscheiden unter einer großen Auswahl muss man sich. Kein Harmonium gleicht einem anderen. Jedes ist ein Individuum, jedes klingt anders. Es gibt männlich gestimmte und weiblich gestimmte, es gibt Harmoniums, die sich für zu Hause eignen, und andere, um in großen Yogastudios Schwingungen zu erzeugen.
Ein Harmonium nennt sich mit unschöneren Wort auch Missionarsorgel. Allein das Wort „Missionieren“ ist von Gewalt geprägt. Das Elend auf der Welt beginnt mit Intoleranz, Begrenztheit der eigenen Sichtweise und Missachtung, falsch angenommener Überlegenheit der eigenen Kultur des Glaubens. Im 19ten Jahrhundert haben die Engländer als Beiwerk ihrer Kolonisation ihre Orgel kleiner und transportabler gebaut und nach Indien verfrachtet. Für manche Klänge und Gesänge ist das Instrument aus dem Westen verpönt, aber in der Mehrzahl rissen sich die Inder das Instrument unter den Nagel und verfeinerten die Bauweise, sodass es sich in sitzender Position bedienen lässt. Und mittlerweile gilt dieses Instrument als indisches Instrument! Warum den Spieß nicht einfach umdrehen?!
Als ich das erste Mal gehört habe, wie eine Yogalehrerin ihr Chanten mit einem Harmonium begleitete, war es mein Herz geschehen. Das gehört also auch zum Yoga?! Und wie! Chanten ist das Mittel, das uns in den Moment bringt (vielleicht auch noch Lachen). Verschmelzen mit dem Moment und dem eigenen Tun ist Bhakti Yoga, das Yoga der Hingabe. Diese spirituellen Lieder mit steter Wiederholung nennen sich Mantras. „Mantra“ bedeutet den Geist zu durchbrechen. Der alltägliche Geist ist schließlich das, was uns am meisten im Leben im Weg steht und uns begrenzt. Im Yoga lernen wir zumindest, den Geist mit am Schuhregal abzugeben – auch wenn er immer wieder sein Zuhause suchen wird. Und somit bleibt Yoga eine lebenslange Praxis. Mit gleichzeitigem Singen und Denken ist der Geist meist überfordert und schaltet sich für die Zeit des Singens mal aus oder hüpft im Gleichklang der Wellen widerstandslos mit. Ein Zustand, in dem sich viel Neues gestalten lässt.
Aber ich jetzt? Singen und musizieren? Ich höre nicht, wenn das Radio rauscht, ich möchte auf tolle Dolby-Surround-Effekte verzichten. Das Geräusch hat daher zu kommen, wo ich es erwarte – nicht nur einmal ist es mir passiert, dass die Obstschale in einem weiten Bogen durchs Wohnzimmer flog, weil mich ein Geräusch hinterrücks aus einer Box überrascht hat. Auch ließ mich nur der Gruppenzwang im Schulchor stehen, wo ich Woche für Woche tonlos meine Lippen mit bewegt habe. Meine Stimme auf Tonband? Besser ich gleite stumm durchs Leben. Das wurde mir so oder so vermittelt, als eigentlich wildes Kind wurde mir immer wieder eingebläut, besser nichts zu sagen – dann das, was ich sagte war nicht klug genug. Und letztendlich tat ich das dann auch, ich verstummte. Die Worte blieben mir wortwörtlich im Hals stecken. Eine konditionierte Sperre. Bald wusste ich auch nicht mehr, wie ich richtig reagieren sollte und könnte – und der Kloß im Hals wuchs immer mehr an. Ich implodierte und wurde zornig und wütend. Der Kanal des Sprechens war mir verwehrt und mein Selbstwertgefühl litt erheblich. Ein Problem bei sich zu bemerken und zu analysieren ist jedoch nur die halbe Miete. Der schwerere Schritt ist, sein Problem auch anzugehen. Dafür ist Arbeit notwendig und genau dazu haben wir unseren Körper und unsere Sinnesorgane, um diese als erstes Instrument zu benutzen. Genau deswegen ist über die Meditation hinaus die körperliche Asana-Praxis auch so wertvoll. Je mehr ich Yogaunterricht als frisch gebackene Yogalehrerin anleiten durfte, desto mehr verschwanden die Panikattacken, mein Hals wurde freier und ich glücklicher – und ich hatte auch das Gefühl nun der Gemeinschaft besser dienen zu können. In meinem Tun bleibe ich natürlich immer Schüler, aber diese Chance als Lehrerin arbeiten zu dürfen und das Vertrauen, dass es nicht ganz so schlecht sein würde, verdanke ich meinem Lehrer Mario Esposito – und er ist fachlich einer der besten Yogalehrer über Deutschlands Grenzen hinaus. „Geh da raus und unterrichte als ob Du nie etwas anderes getan hättest“, war der Satz von ihm, der zu meiner Medizin wurde.
Ich verfeinerte meine Entwicklung und spürte ja so oder so, wie vom ersten Tag an sich beim Chantender Kloß in meinem Hals auflöste. Und was ich nie für möglich hielt, ist nun vor kurzem geschehen: Ich kaufte mir nun freiwillig ein Harmonium, ein begleitendes Instrument.
Für den Kauf eines Harmoniums lässt man sich beraten und zieht sich nicht einfach eines aus der Gebrauchtwarenbörse oder lässt es sich aus Indien von einem Freund mitbringen. Die eigene Stimme muss zum begleitenden Harmonium passen. Und so würde ich mich als echten Glückspilz bezeichnen. Aus ganz Europa kommen Menschen und kaufen sich eines dieser Instrumente im berühmtesten Harmonium-Laden in Böblingen. Böblingen ist eine kleine Kreisstadt Nahe Stuttgarts und damit quasi vor meiner Haustür.
Der Laden heißt Namasté India. Mit dem Eintreten betritt man eine neue Welt. Echt? Hier kann man Harmoniums kaufen? Der Geruch von indischen Gewürzen, Chili-Pasten in allen Geschmacksrichtungen, Teesorten und Obst steigt in die Nase. Der Anblick von einem bunten Allerlei aus Armbändern, Tüchern, aber auch leicht angestaubten indischen und fernöstlichen Holz- und Steinfiguren erwartet den Kunden auf der ersten Etage. Schüchtern greift man eine Ingwerwurzel und eine Teesorte, damit man unauffällig den Laden erforschen kann, ohne etwas falsch zu machen. Für den Kauf eines Harmoniums macht man einen Termin aus – der Laden sollte dafür geschlossen sein, und mindestens zwei Stunden gehen für die Beratung ins Land. Wenn man mit seinem Tee und der Ingwerwurzel aber auch ohne sich zu erkennen zu geben aus dem Laden wieder unauffällig herauskommen könnte, könnte die Erfahrung mit einem Erleichterungsseufzer enden. Aber es bleibt nicht aus, dass eine Frau hinter einem Regel hervortritt, einen lautstark begrüßt und in ihre Fänge nimmt. Gudrun! Das Abenteuer beginnt.
Wochen später, der Termin stand fest, und meine Freundin Bärbel habe ich als Verstärkung mitgebracht. Gudrun merkt sofort, wer für einen Harmonium-Termin kommt, schließt den Laden ab und entführt den Interessenten über zwei Stockwerke, vermischt mit wohl halb privaten Räumen, vorbei an Türmen mit Hunderten gestapelten Harmoniums, bis sich eine Fläche anbietet, auf der man sitzen kann. Eines von vielen Harmoniums wird rausgeholt und begleitend zu zwei Akkorden darf man seine Singkünste zum Besten geben. An diesem ersten Harmonium wird die Stimme analysiert und in mühevoller Arbeit herauskristallisiert, welches Harmonium der zukünftige Partner sein wird – und für welchen Zweck. Zwei Stunden sind das Minimum – gerne kann es auch bis zu vier Stunden gehen.
Die technischen Details von Harmoniums wurden schon von vielen anderen Menschen beschrieben – es gibt dazu bessere Experten als mich. Mich selbst berühren eher Geschichten, die ins Herz treffen – und davon hat Gudrun jede Menge zu bieten..
Gudruns Geschichte ist bewegend. Sie muss sehr viel älter sein als sie aussieht. Mit ihrem Mann, einen Inder, der in Gudruns Laden unter anderem für die Reparaturen der Harmoniums zuständig ist, reiste sie viele Jahre zur Familie und dem Heimatort ihres Mannes, der im Nordwesten Indiens, nahe der pakistanischen Grenze lag. Es war für Gudrun schockierend zu sehen, wie es den Menschen dort ging. Die Reisen wurden für fast ein Jahrzehnt eingestellt und die Flugkosten gespart, damit eine Schule in Indien gebaut werden konnte. Noch heute müssen der Strom und sämtliche Abgaben für die Schule privat bezahlt werden. Gudrun nahm immer mehr Jobs an, obwohl sie zwischenzeitlich auch noch einen Sohn zu versorgen hatte. Sie putzte in Firmen und Privathaushalten, sie und ihr Mann eröffneten einen Pizzalieferdienst. Jeder Euro, der übrig war, floss nach Indien. Die Plattform eBay öffnete vor ungefähr zwanzig Jahren ihre Pforten, und Gudrun verkaufte dort erfolgreich Räucherstäbchen und indische Brettspiele. Eines Tages, eine Reise nach Indien war wieder geplant, bat eine Freundin, Gudrun möge ein Harmonium ihr mitbringen. Dieses Musikinstrument kannte man sonst kaum in Deutschland. Aufgrund ihrer Erfolge auf eBay kaufte Gudrun gleich ein paar mehr Harmoniums in Indien ein. Da sich noch nicht mal ein einzelnes Harmonium im Handgepäck verstauen lässt, wurde ein Sammelcontainer geordert. Wochen später kamen die Instrumente an – als einziger Trümmerhaufen. Nicht ein einziges Harmonium war noch ganz geblieben, und alles Geld war verloren. Die Tränen rollten. Aber was anfänglich aussieht wie ein Unglück, kann sich später als wahres Glück entpuppen. Nach einiger Zeit setzte sich Gudrun hin und leimte und klebte. Was im Holz zu große Risse aufwies, verklebte sie mit Metallbändern, die sie selbst gestaltet hatte – ihr eigentlicher Lehrberuf war schließlich Steinmetz. Genauso lernte sie den Aufbau und die Unterschiede der Harmoniums kennen. Denn auch die Herkunft eines Harmoniums macht einen großen Unterschied – kommt das Instrument aus Delhi, Bombay oder Kalkutta, wirkt sich dies auf die Bauweise und somit auf den Klang aus.
Wie die Metallzungen aufgebaut sind, ließ sich Gudruns Mann von einem Orgelbauer erklären. Es brauchte viele Versuche, es gab viele Rückschläge – und nun hat es Gudrun Deutschlands berühmtesten Harmonium-Laden mit der besten Beratung. Und während man so da sitzt, sich überzeugen lässt, dass es dieses eine Harmonium sein soll und kein anderes, reicht ihr Mann selbst gebackene indische Köstlichkeiten und man lauscht gebannt all diesen Geschichten aus Indien und fühlt sich mittendrin im Geschehen. Gudrun ist eine Naturgewalt!
Meine Hochachtung und Demut für Gudrun ist grenzenlos. Was diese Frau alles geschaffen hat, obwohl ihr Lebenslauf anfänglich kein Indiz für Erfolg und Glück zeigte! Gudrun lehrt, dass jeder Schritt eben getan werden muss. Für Jammern blieb nie Zeit übrig.
Und eine der Geschichte, die sich mit unserem Zeitgeist deckt: In Indien dürfen die Obdachlosen in abgestellten Zugwaggons übernachten. Jetzt sind hunderte zusätzlich abgestellte Züge hinzugekommen. Dort liegen die Corona-Kranken zum Sterben zurückgelassen. Ich möchte mehr von diesen Geschichten hören. Spätestens jetzt wird die Dankbarkeit wohl jeden bis ins Mark erschüttern. Dankbarkeit transformiert!
Und wenn bei dem Verkauf der Harmoniums etwas übrig bleibt, wandert dies natürlich in die Schule von Gudrun und ihrem Mann!