Ode an die Selbstliebe

Ich möchte gar nicht daran denken, wie alt ich schon bin und wie lange ich mich selbst inhaftiert habe.
Man wächst auf und fühlt sich vogelfrei – alles ist Ordnung, und es könnte keine perfektere Form geben als die, in der man steckt. Und schleichend werden dann die ersten Äste zurechtgestutzt. Über jeden Menschen wird ein Glas gestülpt und der Radius festgelegt, in dem er sich bewegen darf. Das ist vielleicht notwendig, damit ein Zusammenleben und ein Miteinander gewährleistet ist und eine Gesellschaft überhaupt funktioniert. Aber nicht selten ist unter diesem Glas der Normung der ein oder andere auch schon eingegangen und zusammengeschnurrt. Die Norm hat nicht gepasst, die Äste wollten weiterwachsen –und wenn es nur aus Neugier war. Aber schnell lernt ein Kind, dem Beschnittmuster zu folgen. Einer Bestrafung und Ächtung geht man lieber aus dem Weg, und am Lob des Gefallens hangeln wir uns hoch. Anerkennung ist das Instrument, das uns erzieht, und wir wir fühlen uns ins Sozialgefüge aufgenommen – von der Gruppe akzeptiert, als wertvollen Baustein im Gefüge. Die Regeln, um drinzubleiben sind oft streng. Es gilt, sich immer wieder aufs Neue zu beweisen – und die Gruppendynamik ist sprunghaft. In manchen Leben kommt der Tag, an dem wir merken, dass uns die Gruppe nicht mehr will. Wir erfüllen die Bedingungen nicht mehr, unser Tun findet keine Resonanz, wir gefallen nicht oder auch unser Innerstes begehrt sich auf wie ein Sandwurm aus dem Film Dune.
Als Kind fehlen uns noch die Worte, um ein Unbehagen zu formulieren. Wir können noch nicht mal darüber sinnieren, was da nicht stimmt, weil das bisher Vorgelebte der Maßstab der Dinge ist. Und egal wie es wirklich ist – aus unserer Sicht ist es normal. Jede Familie ist ein eigener Staat mit eigenen Regeln. Manchmal ist sogar ein ganzer Straßenzug oder auch ein ganzes Dorf an der Erziehung beteiligt. Unsere körperlichen Reaktionen, die von Verzagtheit bis zur Aggressivität reichen, dringen als Erstes nach außen. Aufmerksamkeit, Verständnis, Zugehörigkeit und Liebe werden auf die wohl ungeschickteste Art eingefordert – und bisweilen geht der Schuss nach hinten los. Was sich die Natur dabei wohl gedacht hat? Vermutlich sollten wir alle einfach von Grund auf heil sein und uns liebevoll gegenseitig umsorgen. Aber irgendwo im Gefüge ist ein Bruch passiert, und dieser zieht sich wie ein roter Faden durch alle Generationen. Wie viele Menschen fühlen sich wohl als Mangelware?
Soweit meine Erinnerungen zurückreichen, war mein Menschsein bis zum Kindergarten ganz akzeptabel. Wir machten oft Rollenspiele. Der Wortführer durfte die Pipi spielen, die zweitbeste Rolle war dann die Annika und auf den letzten Platz wurde der Thomas verwiesen. Mein Klappe war groß, die Haare waren lang, ich schaffte es einige Male zur Pipi, meistens jedoch zur Annika. Immerhin waren die Rollen so verteilt, dass Frausein höher gestellt war als die Männerrolle. Und die unangepasste Frauenrolle war sogar angesehener als die der Angepassten. Schon damals beschlich uns die Ahnung, dass ein wilderes Leben, ein Ausprobieren jenseits der Norm, glücklicher machen könnte – aber auch mehr Mut und vor allem mehr Verantwortung fordert. Wenn ich heute ein Pipi-Vorbild habe, dann ist es Jane Goodall.
Im Frausein erkannte ich keinen Nachteil. Ich durfte Puppen verabscheuen, meine Matchboxcar-Sammlung hingegen bedeutete mir alles, und der weibliche Körper war meines Erachtens doch deutlich attraktiver als der des anderen Geschlechts. Wobei Geschlechtsteile ja eh noch nicht im Vokabular verankert waren – alles diente zum Pinkeln. Mädchen sein war so toll, dass ich zwar erkannte, dass man als Erwachsener ein Paar bildet. Aber ich sah nicht, dass es Mann und Frau sein müssten. Ganz klar, dass ich die Katja heiraten würde. Mit größter Enttäuschung vernahm ich, dass das nicht ginge. Wir hatten schließlich Ende der 70er Jahre. Die Normen der Gesellschaft brannten sich so tief ein, dass ich bis heute nicht mal wüsste, ob ich von Natur aus homo-, hetero- oder bisexuell wäre. Was aber zum Glück aber in keinster Weise in Frage gestellt wird ist, wenn man seinen Herzensmenschen gefunden hat und glücklich ist – was bei mir ja dann auch eingetreten ist.
Dass sich schleichend geschlechtsspezifische Muster in der Entwicklung festsetzen, ist ein unbemerkter Vorgang. So stand ich tagtäglich neben meiner Mutter im Bad und beobachtete sie, wie sie sich über meine Geduld hinaus die eigene Natur zurechtbog. Gesichtsmasken, Mascara, Make-Up, Lidschatten und der unsinnige Lippenstift, der 10 Minuten nach dem Auftragen so oder so wieder verdunstete oder in einer Serviette verschwand. Meine Mutter war eisern in ihrer Disziplin: Vollzeit berufstätig, zwei Kinder auferziehend, die eigentlich wie zwei Einzelkinder waren, Geldsorgen fernhalten, sich selbst durch Sprachkurse immer weiterbildend und sich äußerlich ja nicht gehen lassend. So achtete meine, von Natur aus sehr schlanke, Mutter auch noch auf ihre Ernährung, und bei ihr kam immer etwas anderes auf den Teller als bei uns – aus unserer Sicht eher Vogelfutter. Dick sein ist schlimmer als dumm sein, das lernte ich schnell. Jeder, dem man ansah, dass Essen ein klein wenig Spaß machte, erntete einen missbilligenden Blick. Als eine Nachbarin den Gehsteig in Hotpants fegte und das etwas lose Fleisch im Rhythmus des Besens mitschwang, hätte das Lachen nicht höhnischer sein können. Dies verankerte sich tief in mir. Natürlich liebe ich meine Mami sehr – aber das setzte später ein und eher über den Weg des Verständnisses. Sie hatte es ja selbst nicht anders kennengelernt, und ihre Motivation war letztendlich, das Beste für mich zu wollen. Als Kind wollte ich nichts sehnlichster als eine Kuschelmami, die duftende Kuchen aus dem Ofen holt, mit mir bastelt und einen Zoo für mich kauft, statt gute Noten von mir einzufordern. Noch letzteres war mein einziges Mittel, ihre Gunst zu empfangen. Man bekommt im Leben nicht immer, was man in diesem Moment zu brauchen meint, aber vielleicht das, was für die eigene Entwicklung essentiell ist. Dankbarkeit kommt immer mit Verzögerung.
Nun, gute Noten waren wider meine Natur und daher äußerst harte Arbeit. Der Sinn des Lebens stand sehr früh für mich fest: Spaß haben und Genießen. Für Nachhilfe bei Sprachen war meine Mutter zuständig, für Mathe mein Vater. Es gab kaum Mathe-Nachhilfe, weil mein Vater meist auf Geschäftsreise war. Die Talente waren also geschlechtsspezifisch verteilt. Meine Schlussfolgerung: Mädchen müssen nicht gut in Mathe sein. Dass Sport nichts für Frauen zu sein schien, war dann allerdings allein der Schulpädagogik geschuldet. Bevor ich die Regeln beim Völkerball verstand, hatte ich schon den Ball im Gesicht – und so blieb der Sportunterricht für die restliche Schulzeit Krieg. Frauen, die gut im Sport waren, konnten nicht gleichzeitig die Freundin sein, der man das Herz ausschüttet. Auch für einen Austausch über die Matchboxcar-Sammlung hätte es nicht ausgereicht. Aber selbst die härtesten Sportfrauen hatten einen höheren Marktwert, denn ihre Oberschenkel berührten sich nicht. Ab frühester Schulzeit bestimmte das Körpergewicht den Wert des Menschen, insbesondere den von Mädchen. Keine Einleitung in ein Gespräch, bei der man sich nicht den Bauch kniff und meinte „ich muss dringend etwas tun“. Und aus diesem Alter scheint es kein Herauswachsen zu geben.
Oh hätte ich doch nur die Figur meiner Mutter abbekommen! Ich war nicht dick, und keiner sagte zu mir, dass ich dick sei. Aber was ich an Werten und Normen von außen wahrnahm, was folglich zu Vergleichen führte und meine Selbstwahrnehmung komplett verzerrte, führte zu dem Entschluss, dass ich doch dick war.
Schon bei der Einschulung im ersten Stuhlkreis sah ich, dass die Schenkel von Damaris sich überhaupt nicht auf ihrem Stuhl flach ausbreiteten. Sie blieben wie Streichhölzer auf der Stuhlplatte – genauso breit wie im Stehen. Meine Schenkel hingegen zerflossen auf dem Stuhl, wie ich mit meiner Wahrnehmungsstörung feststellte. Fortan konnte ich mich auf keine Toilette mehr setzten, ohne hilflos zuzuschauen, wie sich das Fett ausbreitete. Mit der Zeit malte ich dann sogar mit einem Kuli Striche auf die Schenkel, um mir besser vorstellen zu können wie es wäre, dünn zu sein. Im Teenageralter blieb ich mit aufgestellten Beinen am Strand liegen – das was breit war, konnte nun nach unten fallen. Freibadbesuche mit den Klassenkameraden? „Lieber Gott, gib mir das Vorrecht auf alle Ausreden!“
Wie sollten die ersten körperlichen Erfahrungen mit Männern ablaufen? Zwar hingen im Klassenzimmer reichlich Samantha-Fox-Poster herum (Frau Fox lebt heute übrigens in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung). Aber das wollte doch keiner der Jungs in Wirklichkeit – ein Mädchen mit Kurven. Die nächst tiefere Etage tiefer im Selbstwertgefühl folgte: Dankbar könnte ich sein, wenn mich überhaupt jemand wollen würde. So wenig Selbstwertgefühl wegen so viel Normalsein! Irgendwann landete ich doch im Bett eines Herren, auch wenn es mir wie ein Wunder vorkam – und gleichzeitig den Gedanken aufkommen ließ, dass diese Zeit auch besser zu nutzen gewesen wäre. Ich sorgte mich, wie ich jetzt aber wohl zur Toilette kommen solle. Einfach aufstehen, und das Fett würde von links nach rechts und umgekehrt wabern? Ich malte mir schon das höhnische Lachen aus. T-Shirts im Boyfriend-Look wurden mein Freund.
Aber wollte ich so wirklich mein Leben leben? Sollte es so weitergehen? Freisein fühlte sich bestimmt anders an. Ich ahnte, dass ich mir selbst mein Gefängnis mit meinem Kopfkino baute.
Ich war um die Zwanzig herum, als sich doch tatsächlich der Zeiger der Waage nach unten bewegte – wohl durch einer Grippe. In meiner ersten Euphorie nahm ich noch mehr ab. Und weil ich das erste Mal in meinem Leben richtigen Ehrgeiz verspürte, noch mehr. Irgendwann war es gut – aber lieber jetzt noch mal 2 Kilo auf Reserve abnehmen. Es könnte ja passieren, eingeladen zu werden – dann müsste man ja so tun als ob alles in Ordnung und normal wäre. Ein Gefühl von Erhabenheit durchfloss mich. Ich hatte Disziplin, ich hatte die Macht, andere als dick zu beäugen, und in meiner Vorstellung gefiel mir der Satz, „also ich kann essen was ich will, aber ich nehme einfach nicht zu“. Ich bekam Bestätigung von außen, was für eine tolle Figur ich nun hätte. Kein Gramm zuviel. Aber ich hatte zu diesem Zeitpunkt nicht mal mehr die Kraft, die Königsstraße entlangzulaufen. Egal, dumm sein, ist nicht so schlimm wie dick sein! Aber wollte ich so wirklich mein Leben leben?
Es brauchte einige Zeit, mich aus dieser Spirale herauszuwinden. Ich schaffte es, weil ich meinen Traumjob bekam und merkte, ich brauche die Kraft dafür. Mein Gefühl für satt und hungrig war zu dieser Zeit aber komplett aus dem Ruder gelaufen. Es hat lange gebraucht, es wieder ins Gleichgewicht zu bringen – und zwischendrin, mittlerweile verängstigt von dem Gefühl „Hunger zu haben“, habe ich sicherlich auch mal wieder zu viel gewogen. Aber auch das Zuviel nahm ich nicht wahr. Es gab schließlich noch Menschen mit ganz anderen körperlichen Herausforderungen. Die Welt drehte sich auch nicht nur um mich.
Warum ich wieder mit zuviel Offenheit mein Innerstes nach außen kehre? Weil ich wirklich jedem Mädchen und jeder Frau auf dieser Welt sagen möchte, wie wundervoll sie ist! Jeder Tag mit Selbstzweifeln ist einer zuviel. Wir sind allesamt schön – und perfekt so wie wir sind, von der schiefen Nase, über den Oberlippenbart bis zu den vermeintlich dicken Schenkeln. Jeder ist einmalig, und genauso wie die Berge und das Meer, haben wir auch auch ein Recht, ohne Zweifel einfach zu existieren. Lebt Euer Leben in der ganzen Fülle! Das vermeintlich Unperfekte ist genau das Beispiel, das alle brauchen.
Heute lache ich über mich im Nachhinein. Aber es gibt so viele Zweifler, dass es eigentlich zum Heulen ist.

Ananda (Sanskrit: आनन्द ) – das Glück – im Espacio (dem Raum) zwischen den Schenkeln. Danke, Yoga con Gracia in Barcelona, dass Ihr das auf Eure Blöcke geschrieben habt!
Yoga hilft, ein gutes Körpergefühl zu entwickeln. Und der Körper ist unser anfassbares Instrument für weitere Schritte. Verbrennt Eure Waagen! Wenn ihr Euch dem Lebensrhythmus hingebt und Hormonschwankungen unterliegt, bewegt sich auch das Gewicht. Ein rein geradliniger Verlauf würde allenfalls den Tod beweisen.
Natürlich ist es auch ein Segen, älter zu werden. Sich beiläufig im Spiegel zu sehen und zu sagen, „ach, die frag ich, ob sie mit mir einen Kaffee trinken geht“. Um die Augen haben sich Lachfalten verdient gemacht, die Augen blitzen lebenshungrig, ich sammele am Strand Muscheln ohne Boyfriend-T-Shirt, ich sitze auf der Toilette, ohne Schnittmuster mit dem Kuli auf mich zu zeichnen, und freue mich, dass alle Zellen miteinander arbeiten und ich funktioniere. Ich bin die Frau, mit der ich gerne Papierflieger bastle. Der Zoo ist gegen Beobachten von Tieren in freier Wildbahn eingetauscht, Jane Goodall bleibt mein Vorbild.
Das Schönheitsideal eines jeden sollte das sein, was er im Spiegel sieht – und niemals das, was von außen herangetragen wird! Am schönsten sind wir, wenn wir niemanden gefallen wollen.
Allen gefalle ich nicht, und ab und zu bleibt es schmerzhaft. Aber bevor ich darüber sinniere, gehe ich eben einen Kaffee mit meiner besten Freundin trinken. Also mit mir.
Vergleichen ist der Anfang der Unzufriedenheit und das Ende des Glücks!