Es darf auch etwas leichter sein
Wenn ich meine Yoga-Anfänge hervorkrame, erinnere ich mich daran, dass ich schon beinahe erleichtert war, wenn ich eine Ausrede fand, nicht hinzugehen. Irgendwann in der Literatur oder der Mund-zu-Mund-Propaganda muss es zu der verhehrenden Behauptung gekommen sein, dass Yoga entspannend ist. Genauso wie es ein Druckfehler war, der zu dem Gerücht führte, dass Spinat enorm viel Eisen enthält. Fakt ist: Selten ist Yoga ein ruhiges, anstrengungsloses Dahingleiten. Man müsste schon eine Yin-Klasse buchen – was übrigens definitiv kein Fehler ist. Jedoch ist das Angebot an Vinyasa-, Ashtanga-, Jivamukti- und Hatha-Klassen wesentlich umfangreicher. Ist der Körper gesund und stark, bleibt der Geist gelassen – um es in Kurzform zu schildern. Man wächst mit seinen Aufgaben, und ehe man es sich versieht, gleicht eine Yogaklasse einem Training bei den Navy Seals. Jeder, der länger Yoga macht, hinterfragt mal den Sinn hinter der Asana-Praxis. Für die, die noch nicht so lange üben, ist einer davon, dass die Asanas in all ihrer Unbequemheit uns darauf vorbereiten, das Leben besser zu meistern. Wie oft haben wir auch im Leben unangenehme Situationen, die erfordern, dass wir mit Gelassenheit reagieren, und nicht der ersten Reaktion nachgeben, die uns in den Sinn kommt. Es liegt in unserer Macht, nicht noch mehr Drama aufschaukeln zu lassen. Diese Reaktionspause kann zur großen Freiheit werden. Genau das lernen wir in diesen unbequemen Asanas: gar nicht selbst darin zu verstrickt zu sein, sondern zu beobachten. Die Asanas sind nur Mittel zum Zweck, auch wenn es mittlerweile sogar Literatur gibt, wie man mit Yoga besser abnehmen kann. Mit der Zeit lernen wir uns kennen, jeden Tag neu, und immer besser können wir uns somit ausloten und vielleicht auch je nach Tagesform Grenzen überwinden. Yoga lässt uns den Alltag ganz gut überstehen – auch wenn es komisch anmutet, Selbstgespräche zu führen, zum Beispiel in Ardha Chandrasana: „Ja, Steuererklärung, ab jetzt stehe ich über Dir“, in Marichyasana „Familienstreit, Dich sitze ich aus“ und in Karnapidasana „jawoll, Unfrieden dieser Welt, meine Liebe ist stärker – und ich krieg‘ Euch alle“. So es doch am Anfang. Aber diese Einstellung befeuert das Durchhaltevermögen und die Disziplin „tapas“. Das Asana wird erstaunlich länger durchgehalten, obwohl der Geist schon lange das Aufgeben suggeriert hat. Noch besser, wenn man seine Gedanken gänzlich zu Ruhe bringt und jedes Asana als Meditation ausübt.
Und jetzt ist seit diesem Jahr die Veränderung hereingebrochen. Eine Veränderung, die uns in die Knie gezwungen hat. Nichts, was von uns angestoßen worden wäre – zumindest nicht auf direktem Wege. Unter dem Joch des Virus mussten wir alle Veränderungen akzeptieren. Gerade hatten wir noch darüber nachgedacht, was man verändern könnte, um Natur, Umwelt und Klima nicht dem ganz schnellen Untergang zu überlassen, da war dem Leben unser Nachdenken wohl zu langsam geworden. Jetzt ist das Leben für die meisten schwerer geworden, sogar existenzbedrohend. In einer Welt, die kompromisslos verlangt, dass wir von Geld abhängig sind. Und selbst die Yogaphilsosophie will ja, dass wir uns dem Alltag stellen und nicht in die Höhle ziehen. Wir brauchen die Menschen da draußen – auch wenn jedem erlaubt ist, sich mal in ein Kloster oder Ashram zurückzuziehen zum Auftanken. Das Annehmen der Veränderung fällt schwer, viele empfinden das Sich-fügen als Zwangsjacke. Innerhalb der Veränderung wird viel Energie aufgewendet, um zurückzuverändern. Unter viel Unbrauchbarem kommt aber auch ab und zu ein neuer Denkanstoß zum Vorschein. Nur das Wort „normal“ wird bereits merklich vermieden und überdacht. Denn brauchen wir das alte „Normal“ wieder zurück?
Auch die Yogawelt ist natürlich aus den Fugen geraten. Ist es jetzt nicht sogar umgekehrt? Bereitet uns das Leben etwa auf Yoga vor? Das jetzige Leben als eine der furchterregendsten Asanas? Wie war das bei den Generation zuvor? In Trümmern, in Kälte, in Hungersnot, in Todesangst? Und ist es nicht vielerorts auf unserem Globus nicht immer noch so? Die meisten hatten und haben wohl vor lauter Überleben und Von-der-Hand-in-den-Mund-leben keine Zeit, über Selbstverwirklichung nachzudenken. Auch ist eine moralische Lebensweise oft erst dann festzustellen, wenn man alles hat oder gehabt hat. Die Grenzen gehen dabei oft weit über Gier hinaus. Nichtsdestotrotz erinnert genau Yoga daran, im Moment glücklich zu sein und bereits alles zu haben, was wir brauchen. Wir werden durch Yoga nicht schlechter. Und zum Glück gibt es das Online-Yoga.
Und dieses Mal mit vertauschten Rollen. Wir machen Yoga, um uns auf den Bildschirmen zu vergewissern, dass wir uns alle gegenseitig noch haben, und um uns etwas Leichtigkeit und Glück abzuholen. Das vermeintlich harte Yoga ist nun hell und leicht. Kommt es mir nur so vor? Liegt es an der Relation, jetzt wo das Leben seinen Werkzeugkoffer ausgeklappt hat und einen Blick offenbart, was da alles noch drin sein könnte? Dennoch sind auch wir bedroht, mitten in der Luxuszivilisation. Von der Taschenfederkernmatratze vor den vollen Kühlschrank katapultiert, ist es ein Virus, das schwerwiegende Krankheiten und den Tod bringen kann. Hat uns Yoga auf diese Situation wirklich gut vorbereitet? Jedenfalls machen wir noch Yoga, und das vor allem auch, um uns miteinander zu verbinden. Habt Ihr schon in die Augen der Lehrer geschaut, wie diese leuchten, wenn sie die Schüler vor ihrem Bildschirm sehen? Irgendwie scheint die Freude sich gegenseitig zu sehen noch größer zu sein – die Selbstverständlichkeit ist abgefallen. Eine hautnahe Energieerfahrung, wie sie im Yogaraum stattfindet ist das nicht, aber die Qualität ist eine andere – und ich würde sagen, dass diese nicht minderer Natur ist. Es gibt keine Assists mehr – dem eine fehlen die helfenden Hände des Lehrers, der einen tiefer in die Vorbeuge bringt, der andere ist froh, endlich nicht mehr korrigiert zu werden oder hat Körperkontakt schon immer als unangenehm empfunden. Jetzt entscheidet der Schüler selbst, ob er seinen Bildschirm anmacht und empfänglich ist für mündliche Assists, aber vieles rutscht dabei so oder so durch. Und plötzlich habe ich festgestellt, ich muss gar nicht hundert Prozent geben, ich darf umfallen, ich muss niemanden etwas beweisen – also nicht, dass ich es vorher gemusst hätte, aber eine Liveklasse übt doch latent Druck aus. Wir vermuten doch auch bei andern noch so viel mehr dritte Augen, die uns alle beobachten. Jetzt zu Hause können wir doch mehr sein wie wir sind, es muss nicht alles klappen, es muss nicht alles mitgemacht werden, es muss nicht alles gegeben werden.
Und auch wenn wir uns an die Liveklassen erinnern, haben wir uns dort mit allem möglichen verbunden: mit etwas Höherem, der Körper mit dem Geist, wir uns mit dem Atem, aber auch die Menschen, die im selben Raum praktiziert haben mit uns. Und wann war die Verbindung besser als wenn mal herzlich gelacht wurde? Vielleicht, weil einer umgefallen ist in seinem Asana-Konstrukt – weil es eben nicht perfekt war. Wozu ist Yoga nochmal gut? Sich nicht vom Plappermaul „Geist“ verwirren zu lassen. Den Körper ist schlicht und ergreifend unser Hilfsmittel. Und Bewegung ist genau das, was ganzheitlich auf uns wirkt, was Chemie ausschüttet, Organe auswringt, Nährstoffe an seltene Orte transportiert, Giftstoffe wegschafft, Synapsen neu verbindet und so auch zu einer Wohltat für den Geist wird. Je mehr Neues wir erfahren, neue Bewegungen integrieren, desto besser. Mein Online-Yoga, obwohl ich beim Lock Down 2.0 erst mal wieder so traurig war, ist ein Befreiungsschlag. Und wenn Yoga wieder live stattfindet, kann man ja so oder so wieder neu anfangen. Der oft gepredigte „beginner mind“ kann gelebt werden. Hauptsache, wir bewegen uns überhaupt. Natürlich möglichst gelenkschonend – aber innerhalb dessen ergeben sich ja doch auch Freiräume. Und auch die Lehrer mit ihren fortgeschrittensten Klassen und strengen Ansagen haben sich der Situation angepasst. Online-Yoga ist weicher geworden, gnädiger und leichter. Vielleicht kommt es nur mir so vor. Wenn nicht, wurde die Stimme des Zeitgeistes erhört – volles Energieprogramm eben.
Jeder Lehrer scheint sich auch über das traditionelle Programm, wie eben eine maßgeschneiderte Stunde entsprechend des jeweiligen Yogastils sein soll, hinaus zu bewegen. Es wird gelacht, geplauscht, getrascht, getanzt.
Online-Yoga dient dazu, dass man sich sieht, sich wertschätzt und gleichzeitig nicht nur passiv in den Seilen hängt. Das Beste am Online-Yoga ist: Man ist Aktivist. Die Lehrer, die neben einer Wohnung auch noch ein Studio unterhalten müssen. Die hauptberuflichen Yogalehrer, die auch noch Verantwortung für Kind und Hund tragen. Auch die Yogalehrer, die unheimlich hohe Kosten in ihre Ausbildung gesteckt haben und ihre Hauptberufe auf einen minimalen Stundensatz reduziert haben, um Yoga unterrichten zu können. Sie alle gehören finanziell unterstützt. Von denen, die noch einen Beruf haben. Und mal ehrlich, so viele Benzin- und Klamotten-Kosten (wem sollte man jetzt auch seine neuen Kleider zeigen?), die man sich spart, dürfen jetzt ins Online-Yoga überwechseln.
Jedes Budget ist irgendwann mal erschöpft, und ich hoffe, dass jedes Studio beim Online-Angebot seine richtige Kalkulation angewendet hat. Eine Online-Yogaklasse kostet von unverschämt geringen 8 Euro bis 12 Euro, manche gehen auch bis 19 Euro hoch, um dem Preisdumping Einhalt zu gebieten. Jeder hat sich bei der Preisgestaltung etwas gedacht, und jedes Argument hat seine Pros und Kontras. Freischaffende Yogalehrer bieten ihre Stunden auf Spendenbasis an – und es sollte so viel wert sein, das der Lehrer so sorgenfrei wie möglich über die Runden kommt. Was ist es wert, so viel fröhliche Begleitung in diesen Zeiten zu bekommen? Was ist es wert, so schöne Worte zu hören, die weit über den Yogaunterricht hinaus aufblühen lassen können? Was ist es wert, morgens einen guten Start in den Tag zu bekommen und abends eine beruhigende Sequenz, die uns wertvollen Schlaf schenkt? Unser Geist hält uns ja gerne zu lange wach und dreht seine Loopings, ohne zum Ende zu kommen.
Ich würde selbst so gerne wieder Yoga unterrichten, vor allem wegen dem Umfallen und dem Lachen, aber ich genieße auch, als Schüler dabei zu sein. Als Aktivist. Für die Wertschätzung. Trotz aller Unterschiede der Yogastile, von all meinen Lehrern, sie haben alle schon so viel Unbezahlbares für mich geleistet. Der Vortritt gehört jetzt denen, deren Existenz bedroht ist.
Und da draußen gibt es noch so viele Yogastudios, die so leise im Auftreten sind – ich habe noch einige auf der Liste. Unterstützt Eure Lehrer, bleibt treu. Aber genauso ist es auch Zeit, sich den Überraschungen zu stellen – und die gibt es noch da draußen. Weder auf das Wissen noch auf die Herzlichkeit will ich verzichten. Manchmal lernt man sich online kennen, um zu bleiben.
So viel Ungewissheit uns umgibt, ist es noch wichtiger, sich über das Licht zu freuen, das Gute zu sehen, dieses zu vermehren und auch mal Veränderung geschehen zu lassen. Alles darf jetzt anders sein. Also gehe ins Online-Yoga aber mache es Dir gerne leichter!