Zum Neuen Jahr
Wortwörtlich: der Lack ist ab. Bei meinem letzten Berlin-Besuch hatte ich einige Frauen gesehen, die mir in der Bahn gegenüber saßen und selbstbewusst ihr haarigen Beine zeigten. In der Hauptstadt ist der Trend ja immer ein bisschen der Zeit voraus und ich bin bei unrasierten Beinen und Achseln noch nicht angekommen, aber der Impuls zum Überdenken, was wir Frauen uns alles antun, um zu gefallen, war gesetzt.
Corona ist auch in dieser Hinsicht ein Booster – von der Rolle, die wir nach außen spielen, hin zu mehr Natürlichkeit und Menschsein: kein Nagellack, keine Schminke, Kleiderschrank komplett entrümpelt – ohne nachgelegt zu haben. Der zwickende Blazer, der schon immer verhindert hatte, dass man seine Arme heben konnte, wurde in bequeme Sweater und elastischen Hosenbund eingetauscht. Karl Lagerfeld hätte es uns in dieser Situation wohl verziehen. Das Homeoffice spart lange Anfahrtswege, Parkplatzsuche und nicht zuletzt emotionale Zeichensprache von Auto zu Auto.
Das ist natürlich nur der Mehrgewinn, den ich in meinem eigenen Leben sehe – dabei nicht vergessend, dass die Verzweiflung in anderen Haushalten kurz vor dem Bersten steht.
Ein neues Jahr bedeutet für viele immer einen Neustart. Neues Jahr, neue Träume. Wird es anders? Wird es wie früher? Wollen wir es wie früher? Dabei scheint das neue Jahr auch nicht anders anzufangen als das alte Jahr aufgehört hat. Es ist wie in der Yoga-Praxis: Er wird nicht leichter, aber mit der Zeit können wir besser mit den Herausforderungen umgehen.
Die Grundfesten des Konsums und der Vergnügungssucht sind erschüttert worden, und an mancher Stelle bleibt ein Trümmerhaufen übrig – zerlegt und zerbröselt, oftmals gleich in irreparablen Schutt. Ein heftiger Lavafluss, der sich seinen Weg gebahnt, Altes vernichtet oder neu angeordnet hat. Mit etwas Geduld wird Neues entstehen – so lehrt es uns die Natur. Neue Gewichtungen haben Einzug gehalten? Das Pflegepersonal, die Müllentsorgungsdienste, Lebensmittelhersteller und -verkäfer, Brief- und Paketboten werden endlich als Rückgrat unserer Gesellschaft gesehen. Mögen sie auch im gleichen Maße entlastet und honoriert werden! Kreativität schoss in allen Branchen hervor, die jegliche Phantasien oft sprengte. Für Kunst und Kultur und einige Gastronomiebetriebe ließen sich allerdings schwer Alternativen finden.
Die weltweite Veränderung erreichte uns mit Überschallgeschwindigkeit. Wie lange braucht es oft für einen Einzelnen, eine Meditation in den Tag einzubinden oder die Ernährung umzustellen! Und auf einmal steigen wir plötzlich von heute auf morgen nicht mehr in Flugzeuge?
Sind wir mitten in einem Experiment, werden im Reagenzglas durcheinander gemixt? Oder ist das ganze Leben mit all seinen Lebewesen ein Experiment, und wir spüren das nur nicht mehr, weil wir uns gegen alle Eventualitäten bisher absichern konnten?
Sind wir Akteure in einem Krimi? Opfer, die jetzt von einem Virus angegriffen werden, den wir initiiert haben, wenn auch nicht absichtlich, und der jetzt an Eigendynamik gewonnen hat? Stand der Film „Outbreak“ Pate für diese Realität oder das Buch „der Schwarm“? Hätten wir nur die Natur mal da gelassen, wo sie hingehört. Reicht unsere scheinbare Intelligenz aus, Strategien zu entwickeln? Oder richten wir jenseits des Suppentellers schon wieder ein nächstes Unheil an?
Das Leben endet tödlich. Krankheiten, darunter auch viel Zivilisationskrankheiten gibt es unzählige. Noch würden wir es schaffen, die Menschheit weltweit satt zu bekommen, aber durch unser Verhalten lassen wir Unzählige dem Hunger ausgesetzt.
Nun klopft das Virus aber rücksichtslos an alle Türen wahllos an – rund um den Erdball. Viele müssen sich in Abhängigkeiten begeben und auf Hilfe hoffen. Unabhängigkeit gehört der Vergangenheit an. Noch nie haben wir uns gegenseitig so sehr gebraucht.
Es heißt ja immer, die Menschheit würde zusammenrücken, wenn sie von einer Alien-Spezies angegriffen werden würde. Nun sind die Aliens ein Virus. Ob ein Virus überhaupt zur lebenden Materie gehört, ist in der Wissenschaft umstrittent. Eine Bakterie hat zumindest einen Zellkern und eine Zellwand, ein Virus ist nur ein Bruchteil davon. Dennoch haben im Lauf unsere Geschichte Virus-Erkrankungen die Menschheit oft dezimiert. Die Stärksten überlebten. Doch mittlerweile haben wir uns doch ein paar Schritte aus der Höhle hinaus bewegt. Unsere Gemeinschaft ist bereichert und bunt, indem wir auch die scheinbar Schwächeren schützen – eine Entwicklung aus dem Herzen. Wer weiß, was wir darüber später in unseren Geschichtsbüchern lesen werden oder was das Experiment „Leben“ noch mit uns vor hat. Oder wird die Menschheit nicht zusammengerückt sein, und wir werden mehr über die Spaltung lesen, über Politik, mit der wir nicht einverstanden sind, und über die wir uns so aufgeregt haben, dass wir uns nicht um das große Ganze kümmern konnten: den Erhalt von Mutter Erde, die unsere Basis ist zum Überleben?
Ja, alles wurde schon gesagt – aber dieses kleine, freudvolle Erlebnis möchte ich doch noch teilen:
Innerhalb eines immer kleiner werdenden Bewegungsradius begegnet mir das Große überall. In meinem alten Leben wäre ich vermutlich mit viel CO2-Ausstoß in ein anderes Land geflogen, um mich kulturell weiter zu öffnen, neue Landschaften zu entdecken, das Meeresrauschen wieder tief in mir zu verankern und neue Flora und Fauna zu erleben. Eine Erwartungshaltung an positives Erleben und Sinnesrausch wäre auf jeden Fall da gewesen. Stattdessen machte ich ausgiebige Spaziergänge vor der eigenen Haustüre. Was hatte ich da all die Jahre verpasst! Obstbäume, Moose, Wälder, Feldblumen, Vogelgezwitscher. Meine Sinne waren geschärft und klar wie noch nie. Hätte ich in Afrika oder Südamerika die Krokodil-Sichtung erwartet, war ich jetzt überrascht, einen kleinen Molch ganz ohne Erwartungshaltung zu sehen. Eine ganze Weile musste ich in den Teich starren, bis sich unter dem Laub und der Erde etwas bewegt hatte. Hatte ich jemals einen Molch in freier Wildbahn gesehen? Es brauchte Geduld, bis der Blick sich schärfte. Es braucht Geduld, bis sich unser Geist nicht mehr eintrüben lässt von der Gischt auf der Oberfläche, aus den Wellen und Wogen der Wünsche und Begierden, bis wir unser wahres Wesen erkennen können. Und egal, wie eng wir begrenzt werden oder sogar von Natur aus mit unserem Körper eine Begrenzung mitbringen, das Kleine lässt sich immer herunterbrechen auf das Unendliche. Oder eigentlich: Das Kleine kann hochskaliert werden auf das große Ganze – wenn es unser Geist zulässt. und wir diesen wachsen lassen.
Yoga Sutra Vers 1.2:
yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ
Yogash = Yoga
chitta = Geist, Verstand,
vritti = Gedankenwelle, Geistesbewegungen
nirodhah = Zur Ruhe bringen, zur Wurzel bringen
„Yoga ist das Zur-Ruhe-bringen der Gedankenwellen im Geiste.“
aber weil der Geist doch eine Plaudertasche ist, gilt es, sich nicht mit seinen Gedanken zu identifizieren.
In diesem Sinne wünsche ich Euch allen ein fröhliches, gesundes Jahr 2021 und dass Ihr den Molch auch sehen werdet!