Fuß über Kopf – aber mitten ins Herz
Hals über Kopf – habe ich mich verknallt ins „Fuß über Kopf“, ein kleines, feines Yogastudio im Stuttgarter Westen.
Eine Online-Liebe wird ja noch etwas komisch beäugt, fehlen doch der zufällige Augenaufschlag in der Bahn und das darauffolgende Blitzgewitter. Es hat bei mir aber auch eher die Hybrid-Liebe zugeschlagen als dass es ausschließlich online war. Live war ich ab und zu vor Ort – allerdings immer nur, wenn etwas „Besonderes“ angeboten war: ein Yoga-Special, ein Workshop. Den „Alltag“, also den ganz gewöhnlichen Stundenplan, hatte ich mir erst gegönnt, als es ausschließlich online möglich war. Und es hat Funken geschlagen! Die Erkenntnis daraus: gerade das „Gewöhnliche“, das „Alltägliche“ ist in diesem Studio das Besondere. Die versteckte Schönheit! Das spiegelt sich schon in der architektonischen Situation wider. Während Stuttgart zu weiten Teilen im zweiten Weltkrieg zerstört wurde, gibt es nur noch ein paar wenige Sehenswürdigkeiten, die erhalten geblieben sind. Aber unübertrefflich sind die Hinterhöfe! Das „Fuß über Kopf“ liegt in genau so einem Hinterhof. Man möchte verweilen für Momente länger als notwendig. Das Gefühl, dass eine warme Sommerbrise einen erfasst, der Straßenlärm versickert, das Eis am Stil noch etwas leckerer schmeckt, und man genau im Gold eines Sonnenstrahls steht. Das Heilen beginnt also schon bevor man auch nur einen Fuß ins Studio gesetzt hat. Das „Fuß über Kopf“ ist wie das Happy End eines Films.
Und auch wenn der Hinterhof und das „Im-Licht-Stehen“ während des Lockdowns versagt blieb, so kam genau dieses Gefühl auch in den Onlinestunden hoch, die ich nach der ersten Wachküssung regelmäßig besuchte. Jeder Lehrer dieses Studios scheint dort über eine Superpower zu verfügen: den Menschen nicht in eine Yogaform zu pressen, sondern das herauszulocken, was schon da ist. Jede Yogastunde ist wie eine Einladung, nicht aus Anstand, sondern aus dem Herzen. Mehr als in anderen Studios werden Optionen angeboten. Mit diesen Einladungen darf auch die ganze Fülle sich Bahn brechen, ausgehend vom heilen Kern. Der Quelle, von der wir lernen, sie uns zu erschließen. Die Lehre des Buddhismus: nicht der Krankheit die Aufmerksamkeit schenken, sondern dem Gesunden. Und auch das Gesunde kann verdammt ansteckend sein.
Genau das scheint der Grundgedanke zu sein von Eva Weinmann, der Studiobesitzerin vom „Fuß über Kopf“. Ich weiß nicht, wie alt Eva ist – sie sieht jung aus, handelt und lehrt aber, als hätte sie schon viele Zeitalter durchreist. Bereits 2004 begab sie sich auf Weltreise, um ihren Blickwinkel zu erweitern – die westliche Sichtweise wurde ihr zu eng. Die Reise, um in die unendlichen Weiten einzutauchen, ist dann aber doch meistens die Innere, und so verweilte Eva in vielen Klöstern auf dem asiatischen Kontinent, und die Meditation wurde essentiell. Kurze Zeit später entschloss sie sich, Psychologie zu studieren. Sie hatte damals schon Yoga unterrichtet und konnte nun die Psychologie noch integrieren. Bis heute lehrt sie ihr Wissen als hervorragende Kombination und bildet auf diesem Gebiet auch Yogalehrer aus. Sie studierte in San Francisco mit der Begründung, dass dort auch das Yoga zu finden war, das ihre Begeisterung auf sich zog. Gehe immer zu den Wurzeln! Eva konnte als Teil ihres Studiums auch im dortigen Frauengefängnis arbeiten. Yoga dort zu unterrichten war anfangs nur ein Experiment, aber an einigen Frauen war doch eine positive Entwicklung zu beobachten. Das Schicksal von Gefängnis-Frauen ist meistens vorgegeben: Gruppenabhängigkeiten, Gewalt. Was bleibt, ist ein Trauma.
„Sobald ein Mensch seine Matte ausrollt, egal mit welchen Besonderheiten auch immer, verfügt er über die Ressourcen, etwas verändern zu wollen“ – um Eva zu zitieren. Der heile Kern in uns! Ich bin tief beeindruckt von Eva. Ihre Worte stimmen mit all ihren Handlungen überein. Ihr erstes Yogastudio, das sie 2013 in Stuttgart eröffnete, war weniger beabsichtigt als zufällig. Weder lag ein Businessplan vor, noch hatte Eva finanzielle Ressourcen, als sie eine stillgelegte Kampfsportschule im Stuttgarter Westen anmietete. Alles was für das Studio nötig war, wurde selbst gebastelt oder vom Sperrmüll entnommen. Die Fülle des Lebens ist ja bereits vorhanden – sie muss nur erkannt und upgecyclet werden. Das spiegelte Eva mit der Erschaffung eines wundervollen Ortes wider. Das Folgestudio in der Bismarckstraße durfte mit ein paar mehr Extras glänzen, hat aber in den Charakter-Grundzügen nichts eingebüßt.
Zu Eva in den Unterricht habe ich mich erst sehr spät getraut – zum einen, weil ihr so ein guter Ruf vorauseilte, zum anderen eben, weil sie Psychologin ist. Psychologen lesen einen entweder bis aufs Knochenmark aus oder sie haben ihr Studium gewählt, weil sie es selbst am nötigsten hatten. Ein Psychologie-Studium ist doch oft der Versuch, sich selbst zu bestätigen, nicht normal zu sein! Der Abbruch des Studiums droht, wenn dann doch relativ viel Mathematik auf einen zukommt und man statt sich in Schöngeisterei zu verlieren, mit Realitäten konfrontiert wird. Irgendwo suchen wir doch alle immer das Eichmaß für Normalität! Gerade jetzt, in die eigenen vier Wände verdammt, mit eingeschränkten Kontakten, nordet uns niemand so schnell ein – wir sind stärker mit uns selbst konfrontiert, und wechselnde Launen machen sich schnell bemerkbar. Ein Versuch, uns zu selbst zu kalibrieren. Aber die Zweifel wachsen. Zumindest erscheint mir das logisch.
Und es gibt so viele Menschen, die nicht so auf Anhieb in die Gesellschaft reinpassen. Die einen tarnen sich und funktionieren nach außen, die anderen treten nicht nicht mal in Erscheinung. Viel kann in so einem Leben passieren, langsam oder ganz plötzlich, was aus der Bahn wirft. Eva ist jedenfalls nicht die Psychologin, die um sich selbst kreiselt, sondern so in sich gefestigt ist, dass sie anderen helfen kann. Neben ihrer Yoga-Berufung arbeitet sie als Psychologin mit traumatisierten Frauen. Ein Trauma ist eine Verletzung – verursacht meistens durch Gewalt von außen, und Gewalt hat tausend Gesichter.
Eva ist zutiefst Mensch geblieben, hat nicht die Spur von Überheblichkeit und ist Stützpfeiler. Mir die Begegnung mit Eva aufzuheben, weil diese Begegnung heilig oder ehrfurchtsgebietend sein könnte, war ein Fehler. Man sollte immer mit dem Nachtisch beginnen. Man sollte nicht lange nachdenken, sondern einfach tun. Man sollte sich so viele Happy Ends in sein Leben einbauen wie möglich, gerade für Zwischendurch. Bei Eva habe ich die Weiterbildung „traumasensibles Yoga unterrichten“ absolviert, die aufgrund der hohen Nachfrage am 13. und 14. März 2021 nochmals stattfindet. Und ich kann sie nur wärmstens jedem empfehlen – selbst wenn man nicht beabsichtigt, dieses Wissen in eine Unterrichtssituation anzuwenden, weil es um das Leben und den Menschen an sich geht. Die Wahrscheinlichkeit, einen traumatisierten Menschen kennenzulernen ist hoch: es trifft jeden Dritten bis Vierten.
Ab wann hat ein Mensch ein Trauma? Merkt man es? Kann nicht allein die Erziehung, die eine Form von Konditionierung ist, dazu führen? Gehe ich also als Lernende in so eine Fortbildung oder unwissentlich als Patientin? Alle Ängste waren unbegründet – ich lernte so viel. Wie man Menschen besser lesen kann, was Indizien für Verletzungen sein könnten, wie Gehirne funktionieren, und welch große Rolle Sicherheit spielt. Der Körper ist unser Instrument, aber nicht für jeden der sicherste Ort. Obwohl mich Zweifel über den marktschreierischen Satz beschleichen, das Yoga systemrelevant ist – hier stimmt es. Zumindest für die Gruppen, die nicht die erste Wahl als Zielgruppe sind. Nicht für die Leistungsstarken, sondern für die, die am Rande stehen. Für Übergewichtige, Alte, Geflüchtete, sexuell Missbrauchte, Seelenkranke, körperlich Eingeschränkte. Zwar fällt oft der Satz, wir machen Yoga, um nicht besser im Yoga, sondern im Leben zu werden. Aber die Realität sind eben doch oft gestählte Menschen, schweißgebadet und mit lautem Ujjayi-Atem. Ja kein Leistungsabfall! Man müsste lange suchen, um Yoga-Angebote für Rollstuhlfahrer zu finden, sogar Angebote für ältere Menschen sind sehr rar. Es sind Zielgruppen, für die es eine Portion mehr Feingefühl bedarf, für die Extraausbildungen und oft auch begleitende Maßnahmen erforderlich sind. Aber all diese Menschen sind für das bereichernde Bild unserer bunten Gesellschaft notwendig.
Eventuell muss man für traumatisierte Menschen einen Unterricht anbieten, bei dem andere Körperteile in den Vordergrund rücken als es dem Durchschnittsangebot entspricht. Dann kann Yoga dabei helfen, überhaupt wieder mit seinen Sinnen umgehen zu können. Es gilt zu erkennen, was überhaupt in Disonanz geraten ist, eventuell sind entspannende und beruhigende Methoden auch Gift, und statt Yoga sollte lieber ein Malkurs belegt werden. Die Spannweite ist weit, und Neugier sowie gemeinsame Arbeit sin entscheidend. Die traumasensible Weiterbildung war für mich eine Offenbarung! Es geht um das Menschsein!
Jeder Lehrer im „Fuß über Kopf“ fällt auf durch Bescheidenheit – dabei haben die meisten von ihnen eine Unmenge an Fortbildungen und Zusatzkönnen, und zwar aus Neugier und Wissensdurst sowie Lust und Freude am Weitergeben. Bei allen Lehrern war ich noch nicht, aber einige weitere aus dem Team haben mich bereits in ihren Bann gezogen: zum Beispiel Susanne Stenglein. Ihr Spektrum reicht von Anatomie über Psychologie bis hin zu Poesie. Wollte ich ihre Ausbildungen aufzählen, bräuchte allein dafür einen kompletten Blogbeitrag. Hervorzuheben sind sind aber vor allem ihre verständnisvolle Art und Herzenswärme.
Zu Fabian Schläper, neben Yogalehrer auch Anatomie- und Astrologiefreak, nebenbei Schauspieler, gehe ich fleißig in seine Dienstag-Abend-Stunden. Hier wird auch der letzte Griesgram in eine Frohnatur verwandelt. Mehr Fröhlichkeit und Esprit geht nicht! Gut, dass er als Yogalehrer auch während des Lockdowns unterrichten kann, als Schauspieler auf Theaterbühnen sähe es trotz großem Comedian-Talent trostloser aus.
Louisa Domhan hat einen Yoga-Podcast, dem ich seit neustem folge. Und ohne bisher in ihrem Unterricht gewesen zu sein, wird mich da noch Wunderbares erwarten – genauso wie bei allen anderen Lehrern aus dem „Fuß über Kopf“.
Jedes Event dort lohnt sich, hier eine kleine Auswahl:
- Handstand-Workshop, unter dem treffenden Titel „Füße über Kopf“, online am 27.02.21 mit Thomas
- Traumasensibles Yoga unterrichten vom 13.03. bis 14.03.21 mit Eva
- Ayurveda und Yoga Retreat vom 07.04. bis 11.04.21 mit Louisa und Thomas – und tatsächlich geht es für den einen oder anderen vielleicht das erste Mal nach dem Lockdown zum Ausbüchsen ins Allgäu
- Spring into Summer Yoga und Resilienz Retreat vom 23.05. bis 28.05.21 auf der Fraueninsel mit Eva, Louisa und Thomas
- Summer Joy! Self-Care: Ayurveda & Yoga Retreat im Allgäu vom 14.07. bis 18.07.21 mit Eva und Thomas
- Ganz spannend: wie kann ein Yogalehrer seine Fähigkeiten noch ausbauen? Gut ansagen ist noch nicht die ganze Miete! Dieser Kurs ist in zwei Module aufgesplittet zu je 40 Stunden, die auch separat gebucht
Und wie gesagt: habt auch ein Auge auf den ganz alltäglichen Stundenplan, da jede Stunde in diesem Studio etwas so Besonderes ist.
Eva ist übrigens sehr darauf bedacht, dass Yoga nicht der Upper Class vorbehalten ist. Die Preise sind trotz der mehr als erfüllenden Stunden moderat. Das soll keinen Wettbewerb erzeugen, aber bei allem „Wir müssen die Studios retten“ ist auch zu bedenken, dass Schülern die Ressourcen ausgehen könnten. Ein Mittelmaß ist wohl schwierig zu treffen, aber ich bin wirklich dankbar, dass Eva eine andere Lösung gefunden hat und Yoga damit mehr Menschen zugänglich macht.
Ich werde hier noch viel lernen, tanken oder einfach nur im Lichtstrahl stehen.
Aufmacherbild: Christine Joos, Instagram @crijo.photography