Berlin! Hier und Jetzt!
Nicht nur Geist und Körper sind im Yoga in Verbindung zu bringen. Auch im Hier und Jetzt zu sein ist ein wichtiges Ziel. In sich selber ruhen, und dem Einfluss der Außenwelt stoisch standhalten. Hier versage ich schon. Ich fühle mich einfach nicht überall gleich. Und: das macht mir Spaß, ich wehre mich nicht mehr dagegen und lasse mich treiben. Und das allzu gerne in Berlin. Und so oft ich schon da war: es ist immer wieder neu!
Ein einziges Mal wurde ich von Berlin enttäuscht: als es Hauptstadt wurde. Ich wollte das nicht, ich wollte keine Politiker und Banker in Krawatten, die viereckige, neonbeleuchtete Gebäude bauen und genauso viereckigen Menschen darin arbeiten lassen. Berlin füllt doch genau die Herznische in mir aus, in der ich Hippie, Punk und Anarchist sein darf.
Die Stadt hatte ich erstmals besucht, da war ich vielleicht 12 und ich konnte noch über die Mauer schauen. In meinen damaligen Worten: drüben waren die russischen Deutschen, die Soljanka zum Essen hatten. Und wir waren die amerikanischen Deutschen, die Hubba-Bubba-Blasen gemacht haben. Geschichte hatte mich nicht weiter interessiert. Der Vorteil der Jugend ist, dass man nimmt, was ist. Ich im Schlepptau meiner Eltern – diese Reise zum Familientreffen war dann auch nicht weiter erwähnenswert.
Die wilden Zeiten rollten später auf mich zu: die frühen 90er. Aus Lust und Laune mit einem damaligen Freund fuhren wir mehr als einmal nach Berlin. Nach der Ankunft war es immer Tradition, erstmal beim Griechen (war der auf dem Ku’damm?) ein oder zwei Schnäpse zu trinken (oder waren es drei?). Dann ein paar Freunde aus dem Künstler-Mileu in Kreuzberg zu besuchen (da Künstler immer Pazifisten sind und es in Berlin vor der Wiedervereinigung keine Wehrpflicht gab, haben sich dort ganze Künstler-Kolonien angesiedelt), um dann ins Nachtleben einzutauchen. Gefesselt hat mich immer die Oranienburger Straße. Da gab es das Tacheles, in dem auf jedem Stockwerk mehrere Kunstateliers anzutreffen waren. Im Treppenhaus roch es nach Urin – wenn man Glück hatte, nur danach. Rauchschwaden und Funkenfeuer kamen aus einer Schmiede-Werkstatt und zogen in die Nacht. Neben dem Tacheles fanden unterirdisch und auf Baustellen illegale Technoparties statt. Ich brauchte keine Drogen, um in eine völlig andere Welt gebeamt zu werden. Zu guter Letzt ist man dann noch im Kumpelnest 3000 versumpft. Hier hatte sich versammelt, was an Schrägheit nicht zu überbieten war. Bestimmt hatte Luc Besson hier schon einige seiner Filmideen gesammelt. Vielleicht male ich mir meine seinerzeitigen und prägenden Ausflüge auch nur so extatisch aus, weil ich auf einem Dorf aufgewachsen bin: auf dem Dorf sind die Skandale größer als in einer Stadt, aber so eine Dorfkirche samt ihrer Gemeinde bestimmt den Filter, der darüber gelegt wird. Definitiv verlor ich in Berlin meine geistige Unschuld und ließ es zu. Es hat mir eine weitere Tür zur Freiheit geöffnet. Das Spiel des Lebens hatte einen nächsten Level erreicht!
Durch das Hauptstadtwerden und sicherlich auch den gesellschaftlichen Wandel wurde Berlin auf jeden Fall gezähmter. Und trotzdem ist die Stadt glücklicherweise nicht brav geworden. Jeder Kiez hat seinen eigenen Charakter, allen gemeinsam ist ein Freiheitsgefühl. Und: in Berlin scheint immer die Sonne, zumindest für mich. Und wenn nicht, es ist die Stadt der Sonnenblumen. Urban Gardening ist nicht mehr wegzudenken, jeder sät was er kann und wo er kann. Neue Geschäftsidee sprießen genauso wie die Sonnenblumen aus dem Boden. Die Moleküle drehen sich hier einfach schneller. Berlin macht nicht den Eindruck, gewollt ein Trendsetter zu sein, alles passiert hier so selbstverständlich. Man geht nicht mit der Zeit, man kreiert den Zeitgeist. Berlin ist biegsam wie ein Bambus. Werden die Mieten in einem Kiez zu teuer, wird flugs ein neuer Kiez als Künstlertreff erschlossen, und aus Grau wird Bunt. Es gibt die Späteinkaufsläden (Spätis genannt), und Ideenreichtum verbunden mit Machertum werden anscheinend besser gefördert als anderswo. Bestimmt hat man es in Berlin auch nicht leicht, aber die Leute machen leichter etwas. Bis ein Trend nach Stuttgart oder München schwappt, vergehen gefühlte Lichtjahre. Hier wartet man gerne, bis sich etwas durchgesetzt hat, was Hand und Fuß hat und die nötige Sicherheit offeriert. In Stuttgart (Entschuldigung, meine doch auch so geliebte Kesselstadt) kann ich beispielsweise gerade mal ein veganes Restaurant nennen. In Berlin wäre es fast schon ungewöhnlich oder ein Extrawunsch, wenn der Capuccino mit Kuhmilch zubereitet wird.
So sitze ich in fremden Städten immer gerne in den öffentliche Verkehrsmitteln und beobachte die Menschen. In U-Bahnen und Straßenbahnen werden Menschen aus unterschiedlichsten Schichten genötigt, einen beengten Raum zu teilen (was manchmal besser und manchmal schlechter funktioniert). Und während ich mir das Wesen anderer Menschen einsauge und mir überlege, ob mein Gegenüber weiß, wie einzigartig er ist und ob er hoffentlich glücklich ist oder was man tun müsste, dass er ein glücklicher Mensch wird (ich schaue dabei nicht die Menschen an, die ein klares Statement nach außen tragen wie grüne Haare – es sind die Leisen, die ich mir anschaue, die mit leichtem Doppelkinn, die nicht mit dem Neusten aus der Fahion-Welt schillern), fange ich an, den meisten Menschen durch mein Anstieren mit Argusaugen Unwohlsein zu bereiten. Ich verliere mich einfach in meinen Gedanken. Womöglich klappt mir sogar die Kinnlade dabei runter ;-). Jeder Mensch ist ein neues Universum – oder ist er doch einfach nur ein dumpfer Zellklumpen? Was könnte ich von ihm lernen, was könnte ich ihm sagen? Ja, es wäre schön, ich würde mich mal nur um mich kümmern. „Mind your own Business.“ Und so langweilig ist mein Leben ja nun nicht, dass es dafür nicht Stoff bietet. Aber auch hier komme ich zu dem Entschluss: ich wehre mich nicht gegen „das Leben der Anderen“. Es ist ja nur eine Reflektion von mir, und in der Tat führt es mir meistens vor Augen, wie verdammt glücklich ich bin. (Nicht, dass ich nicht genug Tiefpunkte in meinem Leben hatte, und nicht, dass ich nicht oft sehr traurig sein kann. Aber ich nehme die Tiefen an, und versuche den Spieß umzudrehen, und aus schlecht gut zu machen. Das habe ich gelernt. Oh könnte ich doch anderen Menschen einen kleinen Funken zum Anzünden der Lebensfreude zuwerfen!)
Ich habe Berlin aber nicht nur beobachtet, diesmal hatte ich auch das Gefühl, mitzugestalten. Und auch wenn es nur ein Gefühl sein mag. Viele Yogastunden in unterschiedlichsten Yogastudios habe ich besucht und bin wieder so vielen offenen Herzen begegnet. Durch die Yogapraxis konnte nicht nur das Außen nach innen wirken lassen, sondern mich auch von innen nach außen wachsen lassen. Yoga in den Alltag einzubinden, finde ich oft viel spannender als es nur auf der Matte zu praktizieren. Deswegen möchte ich auch lieber über das Leben an und für sich berichten als hier eine Bewertung von Berliner Yogastudios in ihrer Vielfalt abzugeben. Eine Sache jedoch, die ich aus einer Klasse für mich rausziehe: JETZT! Und für mich: How long is now? Krampfhaft hatte ich lange Zeit versucht und mich bemantrat, „Lebe im Jetzt, genieße den Moment, wirf alle Ängste über Bord, und vergiss die Vergangenheit“. Ich gebe mich nicht mehr dem Druck hin, das „Jetzt“ zu definieren. Die Vergangenheit hat mich für das Jetzt geformt. Ich kann im Jetzt mich entscheiden, ob ich Bilder aus der Vergangenheit aufrufe, die Narben tragen, oder Bilder, die mich leuchten lassen. Genauso wie ich mich entscheiden kann, auf welcher Fensterseite der S-Bahn ich sitzen möchte. Neunzig Prozent unserer Gedanken verlaufen als Dauerschlaufe und sind nicht zielführend. Eine Tat kann Gedanken unterbrechen. Die einfachste ist: ein simples Lächeln.
Hach ja, und die Zukunft: vielleicht wird es diese kleine schäbige Antipasteria auf der Oranienburger Strasse mit den bunten Kacheln, die mir einst in einer der Berliner Nächte ins Auge fiel … Vielleicht steht diese mittlerweile auch in einem anderen Kiez … Oder vielleicht trägt die Welle auch so weit, dass sie bis nach Stuttgart schwappt. Oder war es doch der Blumenladen? Wer weiß das schon? Verschieben wir es auf morgen :-).
Mantra des Monats:
atha yoga-anushasanam
Now this is yoga as I have perceived it in the natural world.
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