Der Herbst, der Tod und das Loslassen
Wie ich wahrscheinlich schon mehr als einmal beschrieben habe: die Natur macht es uns vor, und wir erleben die Reflektion davon in uns selbst. Oder wenn wir dann doch nicht weiter wissen, dann liegt man immer richtig, die Natur nachzuahmen.
Der Herbst lehrt uns so Einiges. Ein wahrer Zen-Meister ist der Herbst! Für mich ja gefühlt ein Absturz vom Höhenflug, eine kleine Depression, eine All-you-can-eat-Johanniskraut-Zeit. So konnte ich doch gerade noch barfuß im Garten neue Blumen und Insekten entdecken, ein strahlend blauer Himmel hat sich fröhlich um mein Gemüt gelegt – und nun hängen zentnerschwer die Kleider in diversen Schichten am Körper, der Gang ist gedrungen. Die Schultern sind hochgezogen – sollte ein Hals überhaupt zum Vorschein kommen, so dient er als Stativ für Schals und Tücher. Verzweifelt versucht man restliche Sonnenstrahlen aufzusaugen, es kann ja morgen schon vorbei sein. Endlich hat man sich eingetanzt, und dann beschließt die Disco Feierabend zu machen und die Musik hört auf zu spielen. Stille! Der Asphalt hebt sich farblich nicht mehr vom Himmel ab. Die Welle, auf der wir noch soeben reiten konnten, muss mit allen Energievorräten selbst erzeugt werden. Von außen haben wir empfangen, von innen müssen wir jetzt selbst die Kraft aufbringen zu leuchten. Es wird wohl hoffentlich alles seinen Sinn haben, auch wenn das Verständnis dafür schwer fällt. Mein erster Herbst ist es ja auch nicht. Und wenn alles Lebendige sich verabschiedet zum Loslassen, dann doch um wieder neu und noch schöner aufzublühen. Jeder Zustand im Leben soll angenommen werden. Es gibt kein falsches Wetter, nur falsche Kleidung. Man soll nicht warten. Ich denke, ich konnte für mich jedoch deutlich machen, wie sehr ich den wärmeren Jahreszeiten entspreche. Für mich ersetze ich mal „warten“ durch „sich darauf freuen“.
Aber es bleibt im Herbst ja noch der Apfel am Baum. Was hat sich der Baum abgemüht und all seine Kraft zusammengerauft, um seinen Lebenssaft letztendlich in einer Frucht zu konzentrieren und zur Vollendung zu bringen. Ein wahres Meisterwerk! Und in diesem Apfel steckt doch die ganze Energie eines Frühjahrs und Sommers drin. Sonnenstrahlen, Zucker, Lebenskraft! Es ist das Geschenk des Baums an uns, und er hat sein Tagebuch in diesen Apfel niedergeschrieben. Er erzählt uns, ob die Sonne ihn zur vollen Größe hat reifen lassen, ob er tropfnass den Sommer durchgehangen ist und ob er den heimischen Insekten und Larven eine gute Heimat bieten konnte. Unsere Natur ist so wunderbar und vollendet. Auch wenn man alles herunterbricht auf kleinere Einheiten, so platzt einem doch fast der Kopf. Mir jedenfalls. Vom Libellenflügel, über das menschliche Auge bis zum Huf eines Wiederkäuers. Und dann die chlorphyllbildenden Blätter von Pflanzen. Und das alles im ständigen Zusammenspiel und sich einander bedingend.
Mit dem Apfel als letztes Geschenk im Herbst zieht sich nun das Leben in den Baum zurück. Der Baum verzieht sich in seine innerste Kernzelle und der Lebenssaft versiegt. Natürlich wird dieser Abschied fulminant mit einem Flammenspektakel gefeiert. Ein letztes mal Abhotten auf der Tanzfläche. Feuerfarben wirbeln in hunderten Nuancen als Laub zur Erde nieder, um sich nochmals in unserem Gedächtnis abzuspeichern – damit wir der nun bevorstehenden Kälte trotzen können. Nichts ist umsonst erfunden worden. Alles lässt los!
Und auch für uns beginnt jetzt die Zeit, uns nach innen zu kehren und auf unsere Kernenergie zu konzentrieren. Auch wir müssen alte Sachen loslassen. So konnten wir im Frühjahr und Sommer alles nach aussen tragen und abgeben, aber um wieder neu empfangsbereit zu sein und aufzublühen, muss altes Zeug weg. Je weniger Ballast in uns zirkuliert, desto schneller der Reinigungsprozess und desto mehr Zeit bleibt für die Innenpflege. Wie schön endlich Zeit zu haben, den Entrümplungsdienst zu holen, die Regale neu zu sortieren und uns mal wieder einen neuen Anstrich zu gönnen. Es passiert wohl jedem, dass man sich in eine falsche Kommunikation reinmanövriert, andere Menschen uns gekränkt und verletzt haben. Absichtlich oder unabsichtlich. Vergessen wäre ja wunderbar, scheitert aber oft an der Umsetzung. Aber verzeihen. Verzeihen funktioniert! Wir können einen Menschen virtuell umarmen und ihn dann behalten oder auch der Geschichte hingeben. Vielleicht haben wir klärende Gespräche gesucht und es ist gescheitert. Wir sollten es dann einfach auf dem Verzeihen beruhen lassen. Wer auf Karma und damit Gerechtigkeit hofft, wird meist enttäuscht. Karma wäre nichts anderes als das Sinnen auf Rache. Und das wiederum ist, als ob man selbst die Giftflasche austrinkt. Karma ist ein sturer Bock und hat ein Eigenleben. Trinkt also nicht aus Höflichkeit die angereichte Gifttinktur!
Genauso können auch falsche Wünsche belastend sein. Es heißt immer, wir sollen doch unseren Traum leben. Ein dummer Kalenderspruch. Wie viele Opfer bedeutet das? Vielleicht gilt es nicht generell, aber es könnte doch zu noch größerer Unzufriedenheit führen. Besser ist es, das Beste aus seiner momentanen Situation rauszuholen. Etwas nicht zu bekommen, ist oft ein großer Glücksfall (Dalai Lama und das Leben). Es reist sich leichter und geschmeidiger durchs Leben, wenn der Rucksack der Wünsche kleiner ist. Wovon wir jedoch nicht genug bekommen und weitergeben sollten: Liebe und „the good feelings“. Und gerne auch ein bisschen mehr Selbstliebe. Diese bekommen wir auch übrigens ohne Umwege durch unsere guten Taten zurück. Gesetz der Natur: Karma reagiert gerne auf die guten Schwingungen, auf die schlechten nicht. Und wer darauf wartet, wird so oder so abgestraft. Kleine schöne Taten sind, einem anderen Lebewesen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern: Vielleicht haben wir Blumen gesät und eine Biene mehr satt gemacht. Vielleicht haben wir Igelfutter auf der Terrasse bereitgestellt. Vielleicht haben wir dem orentierungslosen Autofahrer vor uns einfach mal Zeit gegönnt, sich wieder zurechtzufinden, ohne dass wir wild gestikulierend die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Oder vielleicht haben wir bei einer Bundestagswahl das Kreuz so gesetzt, dass es nicht nur im Eigeninteresse gesetzt wurde und dem Bewahren materieller Besitztümer dient. Dafür können wir uns dann gerne mal auf die Schulter klopfen. Wir sollten uns nicht immer schuldig fühlen, eine Pflicht versäumt zu haben. Vielmehr sollten wir es als Pflicht ansehen, auch zu uns gut zu sein: einfach mal in den Schaukelstuhl setzen mit einem netten Buch, eine warme Badewanne genießen und einen Kuchen mit zuviel Zucker verspeisen. Die Liebe, die wir uns zukommen lassen, können wir potenziert weitergeben!
Es gibt aber auch das Loslassen in seiner schmerzhaftesten Variante: den Tod eines lieben Menschen zu verarbeiten. Und auch wenn vielleicht schon länger zurückliegend, nur zu gerne kommen im Herbst die schweren Gedanken auf. Der Tränenstau bahnt sich seinen Weg nach draußen und fließt. Wir werden daran erinnert, dass der Tod zum Leben gehört.
Meine Freundin und Tante habe ich im Frühjahr dieses Jahres verloren. Vor Jahrzehnten, an Sterben war noch überhaupt nicht zu denken, sagte sie schon, dass sie unbedingt im Frühjahr sterben möchte und keinesfalls im Herbst. Nun, dieses Geschenk konnte sie sich machen, und mir war es auch lieber so – sofern ich an den Tod einen Wunsch richten durfte. Wieviel besser ist der Tod, wenn das Leben ringsum erwacht, die Vögel zwitschern und die Umgebung einen nicht mit Grau ummantelt. Nun holt mich jedoch der Herbst mit schwermütigen Gedanken ein. So war meine Tante doch mein großes Beispiel an Menschsein. Oft stand sie mit ihrer Meinung ungeliebt allein da und stand für ihre Überzeugung ein. Bereits Anfang der 70er Jahre, jenseits jeglichem Trend, hat sie sich fleischlos ernährt und erntete Mißbilligung dafür – man sprach ihr Normalität ab. Und klar, dass es für mich als Kind sensationell war, nicht am Tisch aufrecht sitzen zu müssen, sondern mit seiner Müslischale auf dem Boden sitzen zu dürfen und dabei die Füße auf den Couchtisch zu stellen. Sie ist auch in anderer Leute Gärten gegangen, um zu fragen, welche Blume da wohl wächst und ob sie einen Ableger davon bekommen könnte. Die Reaktionen waren durchaus positiv. Sie ebnete mir den Weg, Dinge nicht nach erlerntem Muster umzusetzen, sondern unkonventionell, wild und frei zu sein. Unermüdlich und ehrenamtlich setzte sie sich für die Katzenhilfe ein und setzte alles in Bewegung, auch jeder noch so kleinen Kreatur ein würdiges Leben zu ermöglichen. Sie gestand sich durchaus ein, dass sie damit nicht die Welt rettete … aber was soll es denn sonst gewesen sein? Sind es nicht die kleinen Dinge im Leben, die von Bedeutung sind? Wir sind doch oft hilflos, wenn die Medien auf uns einprasseln und der Zerfall unserer Erde immer näher rückt. Was wir ändern können, sind wir selbst, und jeder für sich – ist ja auch wieder eine eigene Welt. Das Herunterbrechen auf kleine Einheiten zählt. Und so ist übrigens auch ein Engagement bei der Katzenhilfe zum Beispiel ein Dienst am Menschen (nur weil dies auch schon mal zur Kritik stand). Wie oft haben wir erlebt, dass ein einsamer Mensch wieder aufblüht, wenn plötzlich ein kleiner bepelzter Partner in sein Leben eintritt? Meine Freundin und Tante ging zu früh, ich war noch nicht bereit. Wann immer ich in einer Lebensphase in die Knie gegangen bin oder dem gesellschaftlichen Druck nicht stand halten konnte, sagte sie zu mir, wie unwichtig diese Dinge im Leben sind. Von dieser Sorte Mensch ist mir keiner mehr geblieben oder auch außer ihr mir keiner bekannt. Aber was für ein Geschenk, sie gehabt zu haben. In unseren warmen Gedanken füllen die Toten uns mit Leben. Ziehenlassen ist aber nicht nur eine einseitige Arbeit: auch der Sterbende, sofern ihn eine Krankheit erfasst hat, entscheidet oft, wann er aus dem Leben scheidet und den Sprung ins Ungewisse wagt. Welch Mut! Je älter und reicher uns das Leben macht, desto mehr hängen wir doch daran.
Die Haare meiner Tante und Freundin waren feuerrot, wie passend zum Herbstlaub. Und so habe ich das Bild von ihr, wie sie in der Wiese steht und ein kleines, verlorenes Lamm entdeckt, das von der Herde abgekommen ist. Bis tief in die Nacht hat sie telefoniert, um den Schäfer ausfindig zu machen, der das Lamm dankbar und bereits vermissend abholt, und in seine Herde wieder eingliedern kann.
Ich lasse meine Traurigkeit zu, sie reinigt mich und lässt mich den nächsten Sonnenaufgang auch viel intensiver und prächtiger denn je erleben. Die Traurigkeit ist die Wurzel für meine Fröhlichkeit und mein Glück. Traurigkeit kommt hinterrücks und wie von selbst, Glück und Frohsinn sind innere Arbeit. Dies ist mein selbst ernannter Hauptjob!
Bis zur Mitte meines dreißigsten Lebensjahrs war ich auch auf gut fünfzehn Beerdigungen, und nicht auf einer einzigen Hochzeit. Man könnte sagen, ich bin Experte im Tod seit meiner frühesten Kindheit. Allerdings: es wird wohl nie leichter, jedoch selbstverständlicher! Da auch mir der Tod sicher ist, wünsche ich mir, meinen so glücklich wie möglich gestalten zu können. Mit meiner Yogapraxis glaube ich „auf dem richtigen Dampfer zu sein“… auch wenn dann wieder alles anders kommt als man glaubt und hofft!
Am Gesetz des Todes können wir nichts ändern, aber wie wir ihn annehmen schon. Der umgebende Tod ist jedes mal ein Reset für uns, unser Augenmerk auch wieder auf das Wesentliche im Leben und im Hier und Jetzt zu richten. Man könnte es beinahe auch als Geschenk sehen. Genauso wie es uns der Herbst lehren möchte!
Das Zurückziehen der Sinne heißt im Yoga Prathyara und ist die fünfte Stufe im achtgliedrigen Pfad. Nach innen gerichtet und auf die Meditation vorbereitet.
P.S.: Ein Apfel in den 50er Jahren hatte 3 mg Fruchtzucker, während die heute gezüchteten Früchte mit dem 10fachen Wert auftrumpfen, also circa 30 mg Fruchtzucker pro Apfel haben. Im Frühjahr kann man mit Hilfe eine Stethoskops den Lebenssaft im Baum hochschiessen hören. Dies und andere interessante Dinge über die Natur kann man bei der gut gelaunten Birgit Haas bei ihren Naturwanderungen erleben: www.organicgroundworks.com
Und wer Hilfe bei der Trauerarbeit benötigt und auch wirklich brauchbare Ratschläge vor, während und nach dem Tod braucht: www.stefanbitzer.de
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