Vorbeuger oder Rückbeuger?
Ein neulich belauschtes Gespräch in der Umkleidekabine zwischen zwei Yogalehrern half mir, meine Yogapraxis doch etwas entspannter zu sehen. Es stellte sich nämlich heraus, dass man entweder Vorbeuger oder Rückbeuger ist. Beides in einer Person vereinigt ist wohl äußerst selten bis nicht möglich. Das erklärte mir so manches.
Ich bin leidenschaftlicher Rückbeuger. Meine Vorbeuge hingegen ist von Mühsal, Strapazen und einem feuerrotem Kopf begleitet. Bei den meisten Yoginis scheint es umgekehrt zu sein – die falten sich einfach wie ein Klappmesser zusammen, legen sogar noch einen Block vor die Füße und umgreifen diesen. Ja, ich habe verstanden, ich soll mich nicht mit anderen vergleichen, ich soll nicht mal in Richtung anderer Matten blicken. Aber wenn das Verbotene doch so lockt. Wie machen die anderen das nur? Natürlich habe ich zu kurze Arme, aber proportional stehen dazu ja auch meine kurzen Beine. Dieses Mal zieht meine Ausrede nicht (ich höre das hämische Lachen meiner Lehrer). Für alles, was hinter dem Rücken und durch die Beine gebunden werden muss: doch, meine Arme sind zu kurz! Für die Vorbeuge jedoch ziehen wir ja nicht die Füße mit den Händen heran. Wir legen die Hände ab, wo sie ohne Mühe hinfallen, also würde es ein langer Rücken ja auch tun. Aber wir fallen auch nicht einfach so vorne über (es sei denn, wir sind im Yin Yoga) und lassen den Kopf herumbaumeln. Die Technik des Klappmesser-Scharniers begegnet uns jedenfalls des öfteren im Yoga. In der Vorbeuge neigen wir also unsere Becken nach vorne, gehen mit schnur-geradestem Rücken, oder sogar gefühltem Hohlkreuz (das dürfen wir ruhig uns so denken, da es so oder so nicht funktionieren würde) über die Beine.
Als Kind wurde ich schon ermahnt, nicht so schnitzbucklig dazustehen (schnitzbuckelig ist schwäbisch und bedeutet: Mensch mit Haltungsschaden). Allerdings war das auch ein anderes Jahrzehnt, gefühlt zwar wie gestern, aber doch die Ära, wo es „in“ war, die Diagnose „Hohlkreuz“ inflationär in die Runde zu streuen. Die schnellsten Grippeviren kamen nicht hinterher, so schnell wie dieser Befund verteilt wurde. Liebe Ärzte aus den 70er und 80ern, diese geschwungene Wirbelsäule dient vor allem den Zweck der Stoßdämpfung. Die Krümmung nach vorne im unteren Bereich der Wirbelsäule nennt man Lordose, die Krümmung nach hinten im Bereich der Halswirbelsäule Kyphose. Lordose und Kyphose hören sich an wie tragende Rollen aus „Game of Thrones“. Man müsste schon eine äußert extreme Lordose haben, dass diese als Hohlkreuz durchgeht. Aber wenn besorgte Eltern in der Arztpraxis stehen, kann man ja nicht einfach ohne Diagnose und kerngesund nach Hause geschickt werden. Der Orthopäde meiner Kindheit attestierte mir jedenfalls, dass ich in Kürze ein Stahlkorsett benötigen würde – und sollte ich Glück haben ein Lederkorsett. Es sei denn, ich mache meine Krankengymnastik. Die Korsette im einzelnen habe ich im Tränenschleier nicht mehr unterschieden, ich habe sie addiert! In der Summe ergab das einen Rollstuhl. Vielleicht habe ich einen Hang zur Drama Queen, aber pädagogisch wertvoll waren diese Worte ja nun nicht. Außerdem war ich ja auch schon bedient mit Brille und der Zahnspange, die in der Regel in der roten Dose um den Hals baumelte, gleich neben der Busfahrkarte. Tatsächlich habe ich doch eine Woche lang täglich Krankengymnastik gemacht. Das musste reichen. Ich trage bis heute übrigens kein Korsett. Yoga mache ich fleißig, aber bestimmt nicht aus der Pflicht heraus, sondern weil es mir Freude bereitet. Nimm das, Du dummer Kinderschreck-Orthopäde! Hinsichtlich meines prognostizierten Krankheitsverlaufs bin ich für meine Arme übrigens dankbar, und seien sie noch so kurz – sollte ich das noch nicht erwähnt haben.
Wollte ich nicht die sitzende Vorbeuge – Paschimottanasana – weiter beschreiben? Also auf die Matte setzen, Becken neigen, Rücken gerade, Bauch nach innen saugen, Schultern weit, Blick nach vorne, Brustbein nach vorne. Achtung: zwischen unten und vorne ist ein Unterschied! Nicht genug: die Oberschenkel sind nach innen rotiert, damit auch die richtigen Hüftbeuger aktiviert werden – wir haben insgesamt fünf Hüftbeugermuskeln, und der stärkste ist der Psoas, der vom Oberschenkel bis hin zu den Brustwirbeln reicht. Da er der stärkste ist, würde er ja so gerne in die Vorbeuge gehen, aber er ist auch der Verantwortliche für den darauf folgenden Rundrücken, was im schlimmsten Fall im Bandscheibenvorfall gipfeln würde. Also neutralisieren wir ihn mit einer Innenrotation der Oberschenkel und lassen die Arbeit den Oberschenkelbindenspanner machen. Die Füße bleiben senkrecht stehen und klappen nicht nach außen, die Zehenballen berühren sich. Und zu allem Überdruss wird Euch der Yogalehrer auch noch ein Lächeln abverlangen. Widerstände über Widerstände erstrecken sich über meinen Körper. Da wird ein „Om“ – ॐ – doch schnell zum „Ohm“.
Die Vorbeuge ist ein Asana der Hingebung und der Geduld. Wie der Tag einen in das Asana reinführt, ist auch jedes mal eine neue Erfahrung. Keine Vorbeuge gleicht der vorherigen. Die Yoginis und Yogis, denen Vorbeugen mehr liegen als Rückbeugen, entsprechen auch diesem Asana: tendenziell vielleicht introvertierter, ruhiger, sie vertrauen sich mehr und sind geduldiger. Da haben wir es wieder: der Geist führt den Köper an.
Rückbeugen sind Herzöffner-Posen. Ich könnte den ganzen Tag mein Herz in die Gegend rausstrecken und allen mitteilen, wie es mir heute geht. Damit überfordere ich dann doch oft meine Umwelt. Zu extrovertiert, zu laut und zu peinlich. Am Peak jedoch aufnahmebereit für all die sensiblen Augenblicke. Meine Körperarchitektur hat das Herz so exponiert, dass ich scheinbar schneller verletzbar bin, oder wie andere es nennen: supersensibel. Damit lebe ich, habe mich daran gewöhnt und bin es sogar gerne. An Zurückziehen denke ich nicht, die Welt da draußen lockt zu sehr, und die Neugierde ist geblieben. Vielleicht ist es ja nicht nur nachteilig. Zumindest weiß jeder, woran er ist.
Ein Rad (Chakrasana) – es fällt mir nicht schwer, ins Rad zu gehen. Wenn das Rad allerdings dann doch perfekt sein soll, bin auch ich gefordert: Knie nicht auseinaderfallen lassen, Arme strecken, Beine strecken, Becken noch mehr heben. Ja, dann wird es etwas anstrengender. Aber ich liebe es!
Gespannt vor jeder Yogastunde warte ich, ob heute eher Vorbeugen oder Rückbeugen angesagt werden. Bei Vorbeugen erwische ich mich, wie ich für einen Bruchteil einer Sekunde in mir zusammensacke und meinen Kopf ächzen höre, um dann mich aber gefälligst schleunigst wieder zu freuen. Denn es gilt: was man nicht kann und mag, braucht der Köper. Sonst ist ja auch kein Ausgleich möglich. Und wer weiß, vielleicht werde ich eines Tages noch der geduldigste aller Menschen dank der Vorbeuge. Vielleicht funktioniert es ja auch anders herum, und der Körper formt den Geist.
Zeig mir, ob Du Vorbeueger oder Rückbeuger bist, und ich sage Dir, welchen Charakter Du hast.
Challenge an mich: Sieben Tage, jeden Abend fünf Minuten Paschimottanasana. Und wenn ich nicht geduldig werde, ist es doch wenigstens ein Asana, das gegen Schlaflosigkeit hilft. Wo sonst könnte man besser zur Ruhe kommen?
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