Sein statt werden
Jetzt wollte ich einen Beitrag zur wunderbaren Verwandlung von der Raupe zum Schmetterling schreiben, und dass in uns allen der Schmetterling schlummert, aber ich stocke …
Der Schmetterling ist ja doch das erstaunliche Ergebnis einer Raupe. Und so bekommen wir von klein auf beigebracht, dass der Falter wunderschön und vollendet und im Umkehrschluss die Raupe etwas äußerst Unattraktives ist. Mich stört dieses Bild bei näherer Betrachtung doch sehr.
Natürlich ist es ein absolutes Wunder, dass aus einer Raupe ein Schmetterling schlüpfen kann – sehen sich diese in ihrer äußeren Form nicht einmal ähnlich.
Die Raupe ist unförmig, wenn nicht sogar dick, langsam, unästhetisch und ist das was sie ist: madig und verfressen. Den Schmetterling ziehen wir heran als Beispiel für Grazie, Anmut, Leichtigkeit, Farbenvielfalt … und Blumen anzufliegen ist ja auch viel schöner als die Kulturpflanzen des Menschen aufzufressen. Da hat es sich ja schon die Schnecke mit der Menschheit gründlich versaut … nur ich allein scheine immer über alle Maßen verzückt zu sein, wenn mich diese lustigen Stilaugen herzlich begrüßen. Was sich die Schnecke wohl denkt, wenn sie mich sieht? Hoffentlich Besseres als meine Gattung über sie. Zum Glück sind Tiere rein und immer richtig, weil sie einfach nur sind. Reines Sein – und damit erfüllen sie ihre Lebensaufgabe.
Wir Menschen scheinen nicht einfach nur zu sein, sondern wir müssen werden. Am laufenden Band müssen wir werden. Und immer optimieren und die Stellschrauben nachziehen. Dabei müssen wir nachdenken, wie wir denn gerne sein wollen, noch häufiger, wie uns denn gerne die anderen hätten, und wie wir am besten funktionieren. Von Kindesbeinen an läuft die Konditionierung. Unsere Umwelt lehrt uns zu unterscheiden: was hässlich und was schön ist, was richtig und was falsch ist, und so werden wir geformt. Je früher sie gelehrt wurde, desto nachhaltiger wirkt die vermittelte These. Ratte, Spinne und Raupe sind auf jeden Fall auf der Ekelskala ganz oben. Kleine Kuschel-Kaninchen und Hundewelpen nicht. Und haben wir gerade vernommen, dass aus diesem einen, bestimmten Land nur faule Menschen kommen? Gelernt ist gelernt! Wir lernen auch, dass wir uns dem Leistungsdruck in der Schule beugen müssen, nur so bekommen wir den Traumjob. Der Traumjob definiert sich in der Gesellschaft über viel Geld verdienen. Viel Geld ist höchst angesehen, damit kann sich schließlich Häuser kaufen, Autos und eben Dinge. Dinge, die uns von anderen Menschen unterscheiden – also sogar abheben lassen. Wir lassen uns Angst und Panik einjagen, wenn wir nicht für das Morgen vorsorgen. Auch wenn bisher noch kein Mensch das Morgen vorhersehen konnte. Also sind wir am Werden und lassen uns von außen kneten und formen. Ganz passiv, heimtückisch und unterbewusst passiert es mit uns, dass wir uns selbst von unserer wahren Natur entfernen. Schicht um Schicht wird unser Ich eingelullt und umsponnen. Das wahre Ich, das vielleicht eine Raupe auf dem Grashalm beobachtet hätte oder sogar die Spinne mit der Hand aufgenommen hätte, wer weiß das schon, existiert schon lange nicht mehr. So sind wir weder Raupe noch Schmetterling sondern schlicht und ergreifend im Kokon gefangen.
Natürlich sind Grundregeln und ethische Verhaltensmuster für ein Miteinander sinnvoll und sogar lebensnotwendig. Und natürlich wäre jeder von uns ein herausragender Philosoph, könnte er sein Dasein allein in einer Höhle fristen. So haben wir die Herausforderung und Gratwanderung, sowohl das Zusammenleben zu gestalten als auch zu wissen und zu verfolgen, wer wir sind. Wie weit haben wir uns nur von unserer Natur entfernt? Und vielleicht sollte man eigentlich den Spieß mal rumdrehen: vom Schmetterling zur Raupe werden – also zumindest unseren ureigensten Kern zu kennen. Das Mittendrin, der Kokon, schenkt uns Zeit, kurz inne zu halten und zu sinnieren. Mit dem Wissen, wie unsere Natur ist, können wir uns dann auch wieder entfalten und neue Leben erwecken und andere bereichern, bevor wir uns mit einem Flügelschlag aus dem Leben verabschieden. Eine Entdeckungsreise ist jedenfalls ein wunderschönes Abenteuer.
Gesellschaftlich anerzogene Eigenschaften wie (Be)gier(de) sind wie Honig, sie durchdringen uns, verkleben all unsere Sinne. Haben wir gelernt, eine Lust zu befriedigen, wird das Verlangen danach schnell größer. Die Gesellschaft nimmt daran auch schnell Schaden, auch wenn sie es selbst hervorbringt. Wir müssen vor diesen Eigenschaften auf der Hut sein, wir müssen uns dies immer wieder vor Augen halten und nur so können wir uns wenigstens bewusstere Momente verschaffen.
Auch die Schicht der Sorgen – brauchen wir sie? Sind doch Sorgen lediglich Gedanken an einen Fall, der eintreten könnte, aber noch nicht ist? Sollte ein Umstand eintreten, um den man sich zuvor Sorgen gemacht hat, wäre man ja zweimal in der Leidensschlaufe gefangen. Das ist die doppelte Leidenszeit! Mit einem fröhlichen, neugiereigen Gemüt navigiert es sich einfach leichter durch das Leben.
Aber es ist immer gut zu wissen, wer man ist, und sich an sein echtes Selbst anzunähern.
Im Sanskrit, der Ursprungssprache der Yogis, nennt man diese hinderlichen Eigenschaften, die den Geist trüben und das wahre Selbst blockieren, Kleshas.
Fünf Kleshas gilt es zu unterscheiden, und am besten abzulegen:
Avidya: die Unwissenheit! Sind andere Völker wirklich so, wie wir Menschen über sie reden gehört haben? Haben wir uns selbst davon überzeugen können? Ist jede Sabine gemein, nur weil uns eine Sabine in der Schule nicht hat abschrieben lassen?
Asmita: das überzogene Ego! Interessant ist, dass es nicht nur Hochmut und Stolz betrifft, nein auch das Gegenteil: sich nichts wert zu fühlen, von einem momentanen Gefühl des Versagens auf Grundsätzliches zu schließen und im Selbstmitleid zu zergehen. Ich finde das deswegen interessant, weil auch mir Menschen lieber sind, die tief- als hochstapeln. Aber davon nur ein Quäntchen zu viel, und der Tiefstapler verbraucht Eure Energie. Man schneidet sich für gute Freunde doch sehr gerne ein Stück Herz heraus und versucht zu reparieren und heilen wo man nur kann, aber schnell merkt man auch, wenn die Lebensenergie ausgesogen wird und man dann keine Kraft mehr hat, selbst stabil zu bleiben.
Raga: das ist die (Be)gier(de). Also Anhaftung an materiellen Wünsche. Übrigens gehört dazu auch das Essen. Wir wissen doch genau, dass nicht jedes Essen ethisch gut ist und vielleicht sogar großes Leid verursacht hat. Aber „dass es schmeckt“, lässt uns immer weiter machen.
Dvesha: die Ablehnung und die Angst vor Unbekannten. Von einer einmaligen, schlechten Erfahrung schließen wir auf kommende Ereignisse, die wir unbegründet fürchten. Nur weil die Oma Gertrude mal einen schlechten Käsekuchen gebacken hat aus Zutaten, die längst verfallen waren (weil es die Kriegsgeneration so lernen musste) und ich im Anschluss über der Toilettenschüssel hing, müssen nicht alle Käsekuchen der Welt schlecht sein. Natürlich bildet uns Erfahrung, und je älter wir werden, um so mehr Gefahren sehen wir an jeder Ecke. Aber erinnert Ihr Euch an Tante Else aus meinem letzten Beitrag? Es entzündet ein wahres Leuchtfeuer, wenn man an sich arbeitet und immer neugierig bleibt!
Abhinivesha: Die Wurzel der Angst. Die Todesangst. Sie lähmt uns, lässt uns nicht so handeln wie es wir es aus unserem Inneren heraus vielleicht gerne tun würden. Aber wie schon oben geschrieben: Ängste entsprechen meist nicht der Realität. Die Sorge vor dem Tod darf uns nicht daran hindern, ein erfülltes Leben, entsprechend unseren Möglichkeiten, mit vollen Lungenflügeln auszuleben!
Sowohl Schmetterling als auch Raupe sind perfekte Designs der Natur. Jeder hat unterschiedliche Funktionen, aber beide wissen voneinander. In jedem Schmetterling stecket eine Raupe, und in jeder Raupe ein Schmetterling.
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