Der Wühltisch Gottes und ohne Dach ins Bodenlose
Kalt ist es!
Und die Städte geben mehr an Wahrheit preis als es dem einen oder anderen wahrscheinlich lieb ist. In Herdenmanier plagen sich Heerscharen hängender Mundwinkel von Geschäft zu Geschäft. Dicke Jacken und noch dickere Einkaufstaschen reiben sich aneinander und an eine persönliche Komfortzone ist nicht zu denken. Ich wurde sowohl in meiner Körpergröße als auch bei den Gliedmaßen kurz gehalten. Bildhaft stelle ich mir immer vor, bevor Menschen zur Welt kommen, dürfen sie sich im Wühlregal Gottes bedienen und sich selbst zusammenschustern. Die schönsten Nasen, Augen, Arme, Beine sind dabei natürlich schnell vergeben. Mir war wohl das Ausschlafen wieder wichtiger als früh morgens in der ersten Reihe zu stehen, soweit man in seinem unfertigen Zustand schon stehen konnte. Jammern über das, was man abbekommen hat, wäre nun wirklich undankbar, immerhin ist von allem etwas da und funktioniert (auch wenn es in der Menschenmasse in der ganzen Kürze unkomfortabel ist, und erst recht so manches Asana mit meinen Gliedmaßen gar nicht funktioniert). Und egal, welche Körperteile und Organe man abbekommen hat, der liebe Gott hat auf jedem Teil sein Etikett darufgeklebt, „Mach das Beste daraus und werde glücklich damit, aber tue es“.
Durch die fehlenden Zentimeter muss ich allerdings wieder im Weihnachtskaufrausch büßen, weil ich für Gottes Wühltisch ja partout nicht früher aufstehen wollte. So hänge ich doch meistens unter den Achseln aller anderen Menschen und bekomme nicht selten einen der besonders spitzen Ellbogen an den Kopf. Ein Grund auch, warum Konzerte, Bahnfahrten, Märkte, Bierzelte, Karnevalsumzüge und Discos noch nie zu meiner favorisierten Freizeitgestaltung gehört haben. Die einzige Triebfeder, mich vor Weihnachten doch ins Getümmel zu werfen, ist jedoch: leuchtende Kinderaugen! Es bereitet mir soviel Freude, ein Strahlen erzeugen zu dürfen. Weihnachten ist schließlich nicht nur ein Fest, sondern ein Gefühl. Man muss dafür nicht ein frommer Kirchengänger-Mensch sein. Kindheitserinnerungen an Weihnachten haben sich tief verankert, und so sehr Weihnachten zum Kommerz verkümmert ist und es mit dem Älterwerden auch immer unromantischer wird, so können wir doch jederzeit abrufen wie das Gefühl als Kind war. Das Jahres-Highlight schlechthin. Verklärten Blickes unter dem Tannenbaum zu sitzen, inmitten von Geschenkpapierbergen – und jeder reißt sich am Riemen, keinen Streit entfachen zu lassen. Kerzenlicht hat schon immer milde gestimmt und einen Weichzeichner über vielleicht unschöne Wahrheiten gelegt – der Instagram-Filter der früheren Jahrzehnte! Von positiven Erinnerungen zehren wir, egal wir alt sind. Und daran möchte ich auch ein bisschen schuld sein, dass für einen kleinen Menschen eine gute Erinnerung bei Bedarf abrufbar sein wird. Und wenn es nunmal bedeutet, den Kanal des Konsumterrors dafür zu nutzen, beuge ich mich. So findet man mich also doch unter all den Achselhöhlen und spitzen Ellbogen der anderen.
Eines meiner schönsten Geschenke in meiner Kindheit war übrigens, neben der handgeschnitzen Box mit Halbedelsteinen, ein Geldbetrag von meiner Tante, den ich im Tierheim Böblingen persönlich abliefern durfte. Ihr glaubt gar nicht, wie glücklich ich war, dass ein Hund mehr gefüttert werden konnte. Das nur so als Idee, sollte noch ein pfiffiges Geschenk für ein Kind benötigt werden. Wenn schon früh eine wichtige Sache in Kinderhänden liegt und sich ein kleiner Mensch verantwortlich fühlen darf für ein kleines Stück Glück, wird dies doch mit feuerroten Bäckchen und Eifer umgesetzt. Wir sollten viel öfter Kinder als Lehrer nehmen und die Dinge, die wir tun, für wichtig erachten und mit Leidenschaft ausführen.
Wenn ich mich dann in diesem Menschenpulk auf der Haupteinkaufsstraße von Stuttgart so durchschieben lasse – dieser Akt erfolgt immer passiv und nie aktiv – dann blitzt hin und wieder ein Mensch auf, der so gar nicht in unser System passt. Verfilzte Haare, laufende Nasen, angetrocknetes Blut, schwarze Fingernägel, schuppige Haut, rot-bis blauadrige Nasen, offene Beine, durchlöcherte Pullis, auf einem Schlafsack sitzend mit einer Bierdose in der Hand und nicht selten mit dem besten Freund und Gesprächspartner, einem Hund! Obdachlose.
Was ärgern wir uns, dass Sie uns um Geld fragen und ihre Alkoholfahne uns dabei ins Jenseits katapultiert. Wie abgestumpft muss man wohl sein, wildfremde Menschen um Almosen zu bitten. Zahlen wir nicht schon genug Steuern, heißt es nicht, dass in Deutschland niemand hungern und frieren muss, bekommt nicht jeder Arbeit, wenn er nur will. Und persönlich haben wir uns jetzt die letzten fünf Ausgaben der Lieblingszeitschrift gespart, um überhaupt mal an irgendeiner Stelle mit dem Sparen anzufangen. Es tut mir leid, aber ich schaue hin – und die Obdachlosen gehören für mich zum Stadtbild dazu. Es ist doch der Spiegel unserer Gesellschaft und zeigt, wie schnell wir in diesem Getriebe auch zerbrechen können. Ein kurzer, unachtsamer Moment, ein Moment, in dem wir keine Kraft mehr aufbringen und einfach mal aussetzen müssen, und es ist passiert. Ein kurzer Augenblick der Zahlungsunfähigkeit eines Selbständigen, ein Moment der Freude ohne die Folgen zu bedenken – und man gerät in eine Abhängigkeit. Ein Krankheitsfall in der nächsten Verwandtschaft … Meist sind es unglückliche Verkettungen von Umständen, die in die Obdachlosigkeit führen. Und es passiert schneller als man gucken kann. Erstmals ganz unten angekommen, bringt kaum ein Mensch die Kraft auf, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen – wenn es überhaupt den Sumpf bedeutet. Vielleicht ist es ja auch ein Stück Befreiung, zumindest für einen Moment. Ein Zuckerschlecken ist das Leben auf der Straße aber bestimmt nicht, gerade zu dieser Jahreszeit. Und zu allem Überdruss werden Obdachlose auch immer öfter von ihren „festen“ Plätzen vertrieben, um des Stadtbildes wegen. Macht halt keinen guten Eindruck, wenn Menschen ihre Armut offen zeigen. Und im Dickicht der Banken, Beratungsgesellschaften und neuen Gebäuden, ist Armut optisch nicht gewünscht. Wie geschleckt soll es aussehen – schließlich sollen wir den Fokus auf Leistungsziele richten. Die Prognose für die gesellschaftliche Entwicklung schlägt allerdings eine andere Richtung ein.
Aber wir sind momentan in der Rolle, doch nach links und rechts zu blicken und geben zu dürfen. Das macht übrigens richtig gute Laune und zwingt endlich mal die Mundwinkel nach oben. Meist erfolgt nicht mal ein „Dankeschön“ als Erwiderung. Aber Geben ist auch immer ein Dienst an sich selbst. Wir können es und sollen es auch. Stärkere müssen immer die Hand nach dem Schwächeren ausstrecken, im nächsten Moment könnten wir nämlich der Schwächere sein. Also lasst keinen Augenblick vorüberziehen, in dem Ihr großzügig sein könnt. Seien es materielle Dinge, sei es Zeit, sei es das Herz. Solange wir geben können, wachsen wir selbst daran. Gebt vorurteilsfrei. Und wenn Ihr nichts zu geben habt, dann schenkt ein Lächeln. Ein Lächeln kann den verhärteten und verkrusteten Alltag eines jeden aufbrechen und wer weiß nach wie langer Zeit. Der Eispickel in der Kälte und vielleicht das erste Mal nach langer Zeit ein Hauch von Freundlichkeit und Liebe.
Eine tolle Adventskalenderaktion für Obdachlose führt derzeit das Deutsche Rote Kreuz in Stuttgart durch: Man kann mit einem Schuhkarton, bepackt mit Pulli, Handschuhen, Handcreme und was immer in jedem Haushalt zu viel ist, vorbeikommen, und das Deutsche Rote Kreuz gibt es dann weiter. Dafür gibt es auch ein dickes Lächeln der Mitarbeiter.
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