Die bessere Hälfte

Wenn ich mich bisher auf meiner Plattform über die Yogapraxis ausgelassen habe, so ging es um das kraftvolle Yoga. Ein Yoga, in dem wir unseren Körper als Instrument benutzen, um uns Höherem zu widmen. Anstrengend, schweißtreibend, aber auch reinigend, und immer in der Absicht, den Geist beschäftigt zu halten mit Ausrichtung und Atem. Das so genannte Yang-Yoga.
Eine Zweiteilung findet sich ja immer im Yoga, wie zum Beispiel bei Ha und Tha (Sonne und Mond). Erst eine zweite Hälfte vervollkommnet alles zu einer Einheit. Im Yoga ist die zweite, oft vernachlässigte und somit dann auch die bessere Hälfte das Yin-Yoga.
Im Yin-Yoga kommt kaum bis keine Muskelkraft zum Einsatz. Füße flexen, mit geradestem Rücken in eine Stellung gehen, eine peinlich genaue Ausrichtung, das kennt man im Yin-Yoga nicht. Um Fließen und Schmelzen geht es. Klar, eine leichte Dehnung kommt auf jeden Fall zum Einsatz, und trotz aller Leichtigkeit und Abhängen spürt man sehr wohl den Fluss, der angeregt wird. Und wenn der Kursraum mit dreißig Menschen belegt ist, wird es auch dreißig unterschiedliche Interpretationen zu den Yin-Asanas geben. Es wird hier noch individueller modifiziert als in anderen Yogastilen, und es geht weitaus entspannter zu.
Und wie oft erwische ich mich dabei, dass ich donnerstags, wenn meine Yin-Stunde abends auf dem Stundenplan steht, ich mich höre: „Ach, Entspannen! Geht das nicht noch, wenn ich tot bin?“ Und nach jeder Stunde könnte ich mich ohrfeigen, dass ich es überhaupt gewagt habe, das auch nur ansatzweise zu denken. Meine Donnerstagabend-Stunde im Jivana Yoga gibt Nicole Kohl. Ohne sie würde ich wohl wirklich nicht so regelmäßig hingehen, aber letztendlich ist es wieder das Herz des Yogalehrers, das mich magnetisch anzieht. Nicole macht jede ihrer Stunden zu einem meiner Wochen-Highlights
Es ist Liebe, pure Liebe. Nicole bereitet jede Stunde so hingebungsvoll vor wie ich es nur in meinem Kollegenkreis von Masterarbeiten kenne. Und die Themen gehen nie aus. Zum Glück! Zu jedem Thema gibt es ein Asana, in das man sich sinken lassen kann. Ein Asana wird im Yin-Yoga pro Seite ungefähr fünf Minuten gehalten. Wir aktivieren nicht die zackig schnellen Muskeln, sondern unser langsames, gemächliches Bindegewebe, auch Fasziengwebe genannt. Wie ein Taucheranzug ist unser Körper umspannt von Fasziengewebe, aber auch jeder Knochen, jeder Muskel und jedes Organ wird davon an Ort und Stelle gehalten und umhüllt.
In meinem Zwei-Personen-und-eine-Katze-Haushalt haben wir leider überproportional viele Waschopfer zu beklagen – Wollpullis, bei denen man dann nur noch hoffen kann, ein passend kleines Kind im Bekanntenkreis als geeigneten Erben ausfindig zu machen, um das zusammengeschnurrte Wolldings nicht völlig in die Tonne kloppen zu müssen. Der Wassergehalt im Kollagen, aus dem die Faszien größtenteils bestehen, lässt im Laufe des Alters nach. Schonhaltungen, Narben und vor allem auch Stress lassen unser Fasziengeweben analog zu den Fasern des falsch gewaschenen Wollpullovers verdicken, verkürzen, zusammenziehen und was sonst noch alles schief gehen kann, seit wir auf Bürostühlen sitzen und uns nicht mehr wie Kinder bewegen.
Bei all meinen Zweifeln, ob der Mensch wirklich in den Naturkreislauf gehört und nicht vielleicht doch ein genetischer Querschläger ist, sind wir so perfekt bis in die letzte Zelle konstruiert, dass ich finde, man kann sich allein schon vor jedem einzelnen seiner Organe verbeugen und sich etwas mehr der Gesundheit und dem Bewußtsein widmen. Es ist nämlich mal wieder alles verkettet. Ist das Fasziengewebe in der linken Schulter verzogen, kann es durchaus im rechten Zeh zwicken. Und es lohnt sich etwas zu tun. Denn was für den Wollpulli zu spät ist, ist es für uns nie, egal in welchem Alter. Mit Liebe und Geduld bekommen wir manches wieder hin. Ein entspannter Geist ist ein toller Nebeneffekt, für die meisten vielleicht der Haupteffekt beim Yin-Yoga! Also, ich kann donnerstags, nachdem ich in den Genuss einer Yin-Stunde bei Nicole gekommen bin, immer besonders gut und entspannt einschlafen, und höre auf, meine To-Do-Listen nachts im Bett für den nächsten Tag durchzugehen. Es sei denn, der Vollmond grätscht mir rein. Wenn wir uns im Yin-Yoga dehnen, machen wir keinesfalls russisches Brachial-Ballett oder trainieren für den chinesischen Staatszirkus. Wir gehen in jede Pose nur siebzig bis achtzig Prozent unseres Dehnvermögens rein, und dort bleiben wir dann um so länger. Keine Muskeln, nur unser Eigengewicht wirkt auf den Körper.
Es mag dem oder der einen oder anderen vielleicht langweilig werden in so einer Yin-Position, schließlich ist man bei sich, mit sich und in sich. Ich selbst kenne den Zustand Langeweile nicht. Im Gegenteil, ich wünsche mir diesen Zustand regelrecht herbei. Ich habe immer jede Menge mit mir selbst auszudiskutieren. Aber immer passend zum wöchentlich liebevoll ausgearbeiteten Thema hat Nicole eine Geschichte parat, die sie vorliest, damit man sich nicht ganz alleine überlassen ist.
Oh ich kann gar nicht sagen, wie gut das tut, zwischen all den Nachrichten, dem Arbeitsalltag und dem Familienmanagement wieder Geschichten, Fabeln und Märchen aus aller Welt zu hören. Als vermeintlich erwachsene Person wird man ja in den Bereichen „Phantasie“ und „Herzenswohl“ stark vernachlässigt und verkümmert regelrecht. Und so war irgendwo in meiner Vergangenheit ein unheilsamer Bruch, wie bei so vielen vermutlich. Aber genau dort, wo ich noch ganz war, werde ich von Nicole abgeholt und wieder repariert. Wie ein Schmierstoff werden Wunden gekittet. Und nicht nur Märchenstunden, auch neuste wissenschaftliche Errungenschaften werden den Kursteilnehmern nicht vorenthalten.
Bitter nötig sind diese neunzig Minuten für mich. Viele andere scheinen das auch so zu sehen. Der Kurs ist meist richtig gut besucht.
Hinter meinem Stamm-Yoga-Studio steckt ein Management, welches eines Tages beschlossen hatte, die Lehrer nicht mehr in den Stundenplan zu schreiben. Alle dafür angeführten Begründungen leuchten mir nicht so recht ein. Alle Lehrer sind fantastisch und ich profitiere von der Vielfältigkeit, aber jeder Lehrer bringt auch sich als Mensch ein. Diesen folge ich, und mit dem Wissen, welcher Lehrer unterrichtet, kann ich mich so auf die angebotenen Stunden einlassen. So kämpfe ich immer wieder leidenschaftlich um die Aufnahme des Lehrers in den Stundenkalender.
Aber hier verrate ich nun ein wertvolles Studio-Geheimnis: Nicoles Yin-Stunden sind jeden Donnerstag um 20.00 Uhr! Ansonsten gibt sie auch noch als Yogatherapeutin Einzelstunden und geht dabei individuell auf innerliche und äußerliche Haltungsschwierigkeiten ein. Kinderyoga unterrichtet sie ebenfalls leidenschaftlich, und ich freue mich auf den Tag, an dem ich mich dort einschleichen werde – auffallen dürfte es kaum.
Da Faszien mehr als faszinierend und nebenbei auch unser größtes Organ sind, haben sie auf jeden Fall noch einen zweiten Teil dieses Beitrags verdient, den es demnächst an dieser Stelle zu lesen gibt.
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