Faszienneuordnung

Mein letztes Jahr würde ich zum Teil als aufwühlend beschreiben. Aber ich bin trotzdem sehr gut durchgekommen und dafür dankbar. So ein Jahresabschluss wird ja in unserer Gesellschaft ziemlich groß gefeiert, auch wenn die Zeit gar nicht so richtig greifbar ist und die Übergänge fließend sind. Aber wie dem auch sei, es ist ja auch mal so schön, wenn man dies als Gelegenheit nutzt, sich in den Armen zu liegen und dem Nächsten gute Wünsche zukommen zu lassen (und dies sogar noch so zu meinen).
Und so versuche auch ich, mit einem Brückenschlag an meinen letzten Beitrag aus dem vergangenen Jahr anzuknüpfen. Das Wort „knüpfen“ steht ja für eine kunstvollere Form von „knoten“. Genau das will ich im neuen Jahr vermeiden. Meine Faszien sollen mehr Aufmerksamkeit als sonst bekommen – und mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, glatt und elastisch gestriegelt werden. Die Verspannungen und eigroßen Knoten in meinem Nacken, die sich vermutlich durch unbewussten, sicherlich auch durch bewussten aber nicht vermeidbaren Stress gebildet haben, sind dank einer Thaimassage am vorletzen Tag 2017 bereits deutlich reduziert worden. Massage ist sicherlich der angenehmste Weg, seine Faszien wieder in Reih und Glied „hinzukämmen“.
Yin-Yoga wäre eine weitere Methode, unser größtes Organ wieder zu lockern und in Gang zu setzen. Das war meine Empfehlung im letzten Blogbeitrag. Auch musste ich feststellen, dass all meine Freundinnen sich spätestens nach ihrer Schwangerschaft eine Faszienrolle zugelegt hatten, weil die gut für das Bindegewebe sein sollen – also auch fürs Fasziengewebe. Viele kauften sich das Ding auch ganz ohne den Gedanken, überhaupt schwanger werden zu wollen. Schließlich haben wir ja alle Bindegewebe. An mir war die Faszienrolle erstmal vorbeigerollt. Hatte sich die Industrie doch vermeintlich mal wieder etwas ausgedacht, was man nach kurzer Anwendung für die nächsten Jahre unter das Bett schiebt, beziehungsweise in diesem Fall rollt, oder in den gelben Sack wirft. Wann gab es auch jemals den Zeitpunkt, an dem eine Frau nicht tief in die Tasche griff, wenn das Versprechen lockte, schön oder schöner zu werden. Aber dem Alter nun endlich entwachsen, in dem man auf falsche Werbeversprechen reinfällt, beziehungsweise in dem man schon viel Geld für Cremes und Turngeräte verplempert hat, gab es von mir einfach mal gar keine Reaktion auf den Trend zur Rolle.
Wie abzusehen war, kam irgendwann doch das „Na gut“ – und vielleicht hielt ich ja von allen am längsten durch –, aber nun habe ich sie doch: eine Faszienrolle! Erstanden in einem Laden, der sich eigentlich auf Kaffee konzentrieren sollte, aber fast alles im Sortiment hat, bis auf guten Kaffee eben. Meine Faszien möchten diesen Roller auch nicht mehr missen. Dabei geht es überhaupt nicht um die nicht so hübsche Cellulite („nicht hübsch“ ist nur die alltägliche Mediensprache – selbst sehe ich einfach nur ein stattfindendenes, wundervolles Leben sowohl in der Orangenhaut als auch in Falten), sondern um die Wohltat, dass Verspannungen sich auflösen. Man hört es richtig, wenn ich den Roller zwischen Wand und Rücken klemme, wie die Verknasterungen aufbrechen. Vielleicht hört man es auch nicht, aber es fühlt sich so an. Ein Tennisball würde auch schon gute Dienste leisten, vielleicht sogar noch bessere durch eine kleinere und somit stärkere Druckfläche. Aber der Faszienroller flutscht dafür nicht immer weg. Und so rolle ich mir nicht nur Verspannungen weg, ich verteile auch jede Menge Botenstoffe in meinem Körper. Die Faszien bestehen aus Wasser und Proteinen. Die wässrige Grundsubstanz leitet Nährstoffe, Enzyme, Antikörper und noch so viel mehr durch das Fasziengwebe. Die Autobahn des Lebens. Auch Lymphflüssigkeit und Schadstoffe werden abtransportiert. Die Faszien durchziehen im gesunden Zustand rautenförmig unseren gesamten Körper, alle Organe und Knochen.
Würde man uns häuten wie einen Pomelo (das ist zufälligerweise meine Lieblings- Zitrusfrucht und auch noch ausgerechnet die mit der dicksten weißen Haut – bei Zitrusfrüchten „Mesokarp“ genannt) und alle unsere Innereien absaugen, könnten wir an dem verbleibenden weißen Fasziengewebe sofort erkennen, an welcher Stelle, der Platzhalter für welches Organ ist. Fast wie das erste Intelligenz-Spielzeug für Kleinkinder, die erkennen sollen, wo das Dreieck und wo das Viereck durchgeschoben werden sollen. Beim Pomelo ist die weiße Haut ja auch nicht nur außen, sondern sie umschließt auch jede Zelle, immer feiner werdend – und genauso ist es auch bei uns. Die Natur ist unschlagbar in ihrer allwissenden Intelligenz, und je nachdem, welches Körperteil mit Faszien umgeben ist, ist es mal dichter, mal lockerer oder sogar mehrschichtig.
Es werden drei Arten von Fasziengewebe unterschieden:
Die oberflächlichen Faszien, die im Unterhautgewebe sitzen. Lockeres Bindegewebe, Fettgewebe und Blutgefäße geben unserem Körper die Form. Ein wahres Kommunikationsnetzwerk, da hier auch die freien Nervenenden unzählig vorhanden sind.
Die nächste Faszienkategorie sind die viszeralen Faszien. Sie ummanteln die inneren Organe und auch unser Gehirn, dabei hat jede dieser Faszien einen eigenen Namen – die um das Gehirn ist die wohl bekannteste mit dem Namen „Meningen“.
Die dritte Faszienkategorie sind die tiefen Faszien. Sie umspannen die Muskeln, die Knochen, Nervenbahnen und Blutgefäße. Diese Faszien lassen sich auch unabhängig von den Muskeln zusammenziehen. Sie sorgen dafür, dass nichts aneinander reibt. Sie weisen eine höhere Zugfestigkeit auf als die oberflächlichen Faszien.
Bänder und Sehen sind übrigens auch Faszien. Hier hat sich das Faszienmaterial einfach verdickt. Was man nicht alles lernt!
Lange Zeit war das weiße Fusselzeugs für die Wissenschaft nur leblose Materie. Zum Untersuchen der Organe und deren Zusammenspiel fand man unser Fasziengewebe im Labormülleimer. Mittlerweile weiß man, dass genau dieses alles durchdringende Netzwerk DER Kommunikator im Körper schlechthin ist. Dieses Zugpannungsnetzwerk kennt keinen Anfang und kein Ende. Alles ist miteinander verbunden – wenn aus Yogaphilosophie praktisches Anschauungsmaterial wird . Und wie bei einer Kettenreaktion werden Impulse weitergegeben: Eine Leberentzündung kann die Spannung in der rechten Nierenumgebung verändern, und plötzlich schmerzt die rechte Schulter.
In den Faszien liegen mehr Rezeptoren und freien Nervenenden als im Muskelgewebe. Mittlerweile geht man sogar davon aus, dass in achtzig Prozent aller diagnostizierten Rückenleiden nicht die Bandscheiben, sondern die mit Schmerzrezeptoren angereichterte Rückenfaszie der wahre Schuldige ist. Bei einer Entzündung, bei Fehlhaltungen, zu langem Sitzen, bei Stress (dazu gehören auch Gefühle wie Angst) verfilzt die Faszie – nicht ohne das umliegende Gewebe in Mitleidenschaft zu ziehen. Es spannt, es reißt, wir werden starr und unbeweglich. Schmerzen entstehen, das Gewebe wird gequetscht, und nichts davon ist auf einem Röntgenbild sichtbar. Und auch die mikroskopischen Nährstoffe haben keine freie Fahrt mehr auf der Körperautobahn. Für ein gesundes Bindegewebe sind Bewegung und Dehnung die beste Medizin schlechthin. Die Faszien brauchen sogar diese Mini-Mini-Risse, genannt Nanorupturen. Diese regen die Zellen an und geben ihnen die Impulse, sich zu erneuern.
In der Yoga-Praxis bedeutet das jedoch keinesfalls, dass man bei den Asanas ein Ziehen und Reißen spüren sollte. Es handelt sich um mikroskopisch kleine Risse. Finden die Fibroblasten (das sind die Zellen, die unser Bindegewebe ab- und aufbauen) Störungen vor, wird körpereigener Reparaturkitt eingesetzt. Davon kann es auch zuviel des Guten geben – eine Folge könnte zum Beispiel Fersensporn sein.
Auch unsere inneren Wahrnehmungen und Gefühle sind im Bindegewebe abgespeichert – der sechste Sinn, auch Körperintelligenz oder Embodiment genannt. Unser Bewusstsein braucht den Körper als Erfahrungsinstrument. Wir können lächeln oder grimmig gucken, die Hände verschränken oder die Arme öffnen, um einen psychischen Zustand zu vermitteln. Aber es geht auch umgekehrt. Eigentlich müsste es ja ganz einfach sein, wenn wir nur wollten: Durch die Sportart „Extrem-Mundwinkel-Hochziehen für längere Zeit“ versteht der Körper, dass es uns doch ganz gut geht. Jede Menge Botenstoffe und Hormone werden freigesetzt, und vielleicht wird auch so der einen oder anderen Anspannung im Körper der Garaus gemacht
Selbst doktore ich gerade an meiner Plantarfaszie (der Sehnenplatte in der Fußsohle) herum. Vor einiger Zeit spannte mein Fußgewölbe am rechten Fuß, dann genoss ich, dass wieder Ruhe eingekehrt war, aber mittlerweile ist der reißende Schmerz überhalb die Ferse gewandert. Weder der herabschauende Hund noch die gestreckte Vorbeuge sind mir gerade möglich. Der Mensch altert vom Fuß her, heißt es. Meine Asana-Pause bekommt mir aber übrigens ganz gut – wie gesagt: Yoga hat ein anderes Ziel als sich zu verbiegen. Meine Meditation gelingt mir immer besser, und ich hätte weder gedacht, dass man das üben kann, noch dass ich es brauche.
Neben Yin-Yoga ist für die Faszien übrigens alles erlaubt, was Spaß macht: Trampolinspringen, Schütteln wie ein nasser Hund, Gähnen und Strecken wie eine Katze oder Tanzen wie John Travolta. Jede Minute in den sturmfreien vier Wänden wird ausgenutzt, unmöglichste Bewegungen auszuführen („abspacken“ nennt sich das auf Neudeutsch) zwischen einer musikalischen Bandbreite von Milva über die Leningrad Cowboys bis hin zu AC/DC. Die Luftsprünge und Salti male ich mir natürlich nur im Kopf aus, gehe wieder zum Headbangen über, spiele Luftgitarre, verfluche die Erfindung des BHs, werfe alles, was mich einengt in die Ecke, lasse alles Bindegewebe unkontrolliert in der Gegend rumwedeln – und spätestens jetzt durchfährt mich ein Blitzschlag: was denken sich jetzt nur wieder die Nachbarn?!
Aber wie heißt es so schön: Lebe, als ob jemand versehentlich das Gatter aufgelassen hat!
Write a Reply or Comment