Die richtige Dosis finden

Vielleicht mag es für manche Küchentischpsychologie sein, aber nicht mehr missen möchte ich die Gespräche in der Umkleidekabine – am liebsten mit meiner Freitagsyogalehrerin, meiner Inspiration und auch mittlerweile Freundin: Susanne Esposito, kurz: Susi. Sie ist eine der weltbesten Lehrerinnen. Ihr Yogaunterricht besteht aus den schönsten Ansagen, dem besten Rhythmus und ist insgesamt rund, dynamisch, individuell eingehend, unaufdringlich, aber nie belehrend. Sie selbst stellt sich auch niemals in den Vordergrund und verfügt ein umfassendes medizinisches Wissen. Und bei jedem Zipperlein hat sie einen Rat, wie man ein Asana modifizieren kann. Ihr selbst scheinen physisch keine Limits gesetzt zu sein, aber sie ist Lichtjahre davon entfernt, auch nur ein Instagram-Posing „vorzuturnen“ oder sich darin ablichten zu lassen – dafür muss man dann schon heimlich durch einen Türschlitz spähen. Eigentlich ist sie eine Spur zu bescheiden. Ein yogisches Vorbild eben, und als Mensch allemal. Nur ab und zu, da kullert ihr eine Melancholieträne die Wangen herunter, vor lauter Heimweh nach Köln. Es würde mir auf dem umgekehrten Weg genauso gehen – also müsste ich meinen geliebten Kessel ausgerechnet für Köln verlassen. Nun ist sie hier, und des einen Leid, des anderen Freud – also meine Freud!
Und voller Ehrfurcht, so eine Yogalehrerin vor sich zu haben, und mit all meinen Komplexen versehen, nicht die Hoffnung wagend, in einen Menschenkreis ihresgleichen aufgenommen zu werden, traut man sich lange Zeit nicht, einfach so darauf loszuquatschen und sein pures, kartoffeliges Menschsein zu entblößen. Aber wie es die Zeit so mit sich bringt, werden die Gespräche ungezwungener und die Lacher lauter. Ich nähere mich Köln an, und Susi bekommt mit, dass Stuttgart mehr als Kehrwoche ist und man auch hier ein bisschen lachen darf. Also wenigstens im Keller, doch da hallt es um so lauter!
So fanden wir uns auch neulich wieder in der Umkleidekabine, und die Gesprächsspanne reichte von Familie über Politik und Menschenrechten bis hin zu Tierrechten.
Zu jedem Thema gibt es ein Gruppe von Menschen, die sich über soziale Netzwerke gerne Luft macht, meist wie es zum eigenen Lebensstil und Ego gerade passt. Früher hat man sich auf Demonstationen getroffen und hat ein gemeinsames Lebensgefühl zelebriert. Da gab es Demos für die Freilassung von Nelson Mandela, gegen den baden-württembergisches Kultusminister oder gegen Atommülltransporte. Untermalt waren diese Stimmungen mit Musik von Mory Kanté, Melissa Etheridge, U2 oder Pink Floyd. Heute gibt es viel weniger Demonstrationen. Die Brandherde auf der Welt sind aber mehr geworden oder durch die sozialen Netzwerke präsenter. Man ist oft hilflos und weiß gar nicht mehr, wogegen noch auflehnen, und sackt resigniert in seinem Couchsessel zusammen. Die Zeiten sind schneller geworden und erfordern, dass wir unseren Alltag dichter vollpacken. Wir hätten doch gar keine Zeit zum Demonstrieren, und das soziale Netzwerk auf den Computern verspricht mit einem Klick eine größere Reichweite. Und wenn wir hinterfotzig sein wollen, geht das sogar auch anonym dort. So hat jeder seine Engagement-Insel gefunden – und hier und da oder auch von allen Seiten gleichzeitig bekommt man ein Brett über den Kopf gezogen.
Deshalb stellte Susi richtig fest: handle niemals aus der Wut heraus!
Wer mich kennt, weiß, dass ich Tieren meine Stimme gebe, da sie keine haben. Und bis heute kann ich es natürlich nicht verstehen, wie man meine Sichtweise nicht teilen kann. Es ist so offensichtlich und selbstverständlich für mich. Und so wird mein Herz oft noch tiefer von meinem Umfeld verwundet, als es die eigentliche Ursache schon tut. Am Ende übermannt mich das Gefühl der Ohnmacht. Eine kühle, distanzierte, kopfgesteuerte Diskussion ist mit mir so nicht mehr möglich, wenn mir das Herz ausläuft. Und jedes Mal droht die Gefahr, noch mehr verletzt zu werden, wo meine Absicht doch wäre, etwas zu bewegen, etwas zu verändern anstatt selbst verwundet in der Ecke zu liegen.
Im Laufe der Zeit habe ich sicherlich gelernt, nach aussen etwas gelassener zu erscheinen, meine Blüte zu schließen, nichts an mich ranzulassen und meine Energie nicht bis zur Erschöpfung zu vergeuden, wo ich auf kalte Herzen stosse. In mir tobt dann trotzdem der Kampf.
Vor nicht allzu langer Zeit traf ich mit einem Menschen zusammen, bekleidet mit einer Jacke, die sich aus Kanninchenpelz und Fuchspelz kombinierte. Die Marke Bogner ist ja für unnötiges Tierleid bekannt – im Zeitalter aller möglicher wärmender High-Tech-Stoffalternativen. Ich frage mich, wer es überhaupt noch toleriert, dass viele Leben qualvoll geopfert werden, damit sich ein nur einzelnes Leben dekorieren kann?
Also was tun? Der Mensch war da, und die Jacke war da. Prompt bekam ich auch ein kurzes Statement auf meine, mir entgleisende Mine, die meinen Worten, und eigentlich sogar der Formulierung der Gedanken, immer voranprescht. Kontrolle über meine Mimik zu erlangen wäre ein Ziel von mir – bis ich das erreicht habe, weiß aber noch jeder, woran er bei mir ist. Das Statement lautete jedenfalls: „Die Welt ist so schlecht, dass es darauf nicht mehr ankommt“. Achso!
Für einen Bruchteil von Sekunden spürte ich, wie sich Entspannung bei mir einstellte: wie blöd konnte ich nur sein, mir überhaupt so viele Gedanken zu machen! Ob ich mir beim Händetrocknen ein oder zwei Papierhandtücher aus dem Spender ziehe. Ob ich in ein Butterbrot beiße und darüber nachdenke, woher die Lebensmittel stammen und welche Verkettung an Leid diese mit sich ziehen. Und habe ich nicht neulich im Imbiss das unbenutzte Salz- und Pfefferpäckchen zurückgetragen, wo andere es auf ihrem Tablett zum Wegwerfen liegen lassen? Zwei Gramm Salz? Lohnt sich das? Ja, die Welt ist schlecht, und wo soll man denn nur zuerst anpacken? Lässt sich die ganze Domino-Maschinerie noch stoppen, die wir Menschen in Gang gesetzt haben? Müssten wir nicht eine 180-Grad-Kehrtwendung einschlagen? Ach, das geht doch gar nicht. Na gut, dann können wir auch genau so weiter machen.
Aber es ist doch eigentlich ganz einfach: Was wir können, ist bei uns anzufangen. Wie bei einem Stein, den man in einen Teich wirft, wachsen die Kreise von klein auf größer an. Nur ein paar Momente Bewusstsein von mal zu mal mehr dazu nehmen! Und genau damit verändern wir uns, strahlen und stecken andere an – und können Vorbild werden. Und andere stecken andere an! Auch wenn das Ziel unerreichbar zu sein scheint, dass die Welt gerettet wird, wir können diese Babysteps unternehmen und dem Ganzen doch eine Chance geben. Wer weiß: Wenn wir das Universum in uns anzünden, ob wir nicht auch das Universum da draußen anstecken können. Nichts unversucht lassen!
Aber: Wer im Glashaus sitzt, darf nicht mit Steinen werfen!? Bei allem Umwelt- und Mitwesengedanken, habe ich mir selbst zentnerschwere Schuld aufgeladen – und das nicht mal unabsichtlich, sondern in vollem Bewusstsein und mit all meinen Sinnen. Bis heute trifft mich meine Tat in Mark und Bein.
Es ist einige Jahre her, dass ich im Wonnemonat Mai ein paar Tage in Chicago verweilen durfte. Da wollte ich auch immer mal hin, der Klang des Stadtnamens ist ja schon so verheißungsvoll. Auf die Kälte dort war ich aber dann doch nicht vorbereitet. Im Mai kann man dort dann auch keine Handschuhe mehr kaufen – die Saison ist vorbei! Aber meine Finger waren blau gefroren. Und endlich traf ich in einem Kaufhaus eine hilfsbereite Verkäuferin, die aus Lager noch das letzte verbliebe Paar Handschuhe geholt hatte. Lederhandfäustlinge mit Kaninchenfellfütterung zum reduzierten Preis. Mein Leidensdruck war groß, ich kaufte sie. Aha: Zuerst das Fressen und dann die Moral!? Da ist der Beweis. Und jede kalte Jahreszeit, zu der ich meine Schal- und Handschuschublade öffne, offenbart sich mir dieses anklagende Bild und trifft mich wie ein Faustschlag in die Magengrube. Was würde ich nur alles tun, um es ungeschehen zu machen. Ich kann gar nicht ausdrücken, wie es mir damit geht – Worte genügen dafür nicht. Unerträglich.
Die Schublade des schlechten Gewissens lassen wir gern verschlossen und verdrängen ihren Inhalt. Aber wie bei einem schlechten Magnetverschluss können wir nicht verhindern, dass sie sich von Zeit ungewollt öffnet.
Vielleicht kann ich durch meine kleine Geschichte jemanden zu einem bewussteren Moment verhelfen und sogar verhindern, dass ein Produkt, von dem wir genau wissen, dass es durch Leid entstanden ist, konsumiert oder gekauft wird.
Kein Mensch, der ein Wurstbrot isst, hat die Kette bis zum lebenden Tier vor Augen – schon gar nicht den Transfer und das Schlachthaus –, sondern lediglich ein „normales“ Lebensmittel, das ihm schmeckt und auf das er nicht verzichten möchte.
Wie schlimm wäre denn ein Verzicht? Wie schlimm wäre es, wenn man sich zum Wohl unseren Planeten ein Stückchen verändert? Kann ein Verzicht nicht auch bereichernd sein? Haben wir nicht länger mehr davon? Es ist nur ein Irrglaube, dass durch „weniger“ Genuss oder Luxus abhanden kommt.
Darf ich aber überhaupt etwas sagen, für eine Sache einstehen, wo ich doch keinen Deut besser bin als irgendjemand anders?
Der innere Kampf, den ich mit mir immer wieder austrage, wird auch metaphorisch in der Bhagavad Gita beschrieben, dem Epos für jeden Hindu, Yogatreibenden und auch natürlich allen Interessierten. Die Bhagavad Gita handelt von dem Krieger Arunja, dem die Kräfte plötzlich wegsacken vor der bevorstehenden Schlacht, die viele Leben kosten würde, ihn sogar gegen sein eigen Fleisch und Blut und seine Lehrer stellen würde. Ein aus Arunjas Sicht sinnloser Kampf, der einfach nur kräftezehrend und erschöpfend wäre. Krishna, der Arujna beratend zur Seite steht (und auch die Reinkarnation des Gottes Vishnu ist, das kosmische Selbst, das innere Göttliche und der spirituelle Lehrer), führt Arunja vor Augen, dass er in die Schlacht ziehen muss. Gegen das Unrecht. Es ist seine Pflicht, die innere göttliche Pflicht: dharma. Die Pflicht gegenüber der eigenen Authenzität. Wenn man das Wissen inne hat, bleibt einem nichts anderes übrig, als genau danach zu handeln.
Was übrigens nicht bedeutet, dass wir verblendet durch die Welt marschieren und Glaubenskriege im Namen irgendeiner Religion führen sollen. Aber wir wissen doch im tiefsten Inneren ganz genau, was richtig ist. Und wann immer irgendwo ein Herz in Gefahr ist und unser Körper ausgestattet mit Wissen und unserem Sprachorgan, ist es unsere Pflicht, dafür einzustehen.
Susi und ihren Unterricht versuche ich mir als Vorbild zu nehmen – einfach immer die richtige Dosis zu finden, was ich einem Menschen zumuten kann. Mit mehr Liebe! Und immer wissend, selbst Schuld aufgeladen zu haben und anzuerkennen, dass der ein oder andere genau so im Lernprozess steckt.
Wir können als Einzelne sehr wohl viel bewegen – und wenn wir nur für einen einzigen Menschen als Vorbild leuchten. Die Lichterkette wird entzündet. Jeder Einzelne ist ja auch ein ganzes Universum. Natürlich macht jeder etwas aus!
Die Susi MUSS man kennenlernen. Eine Chance habt Ihr im Jivana Yoga:
mittwochs vom 9.15h – 10.30h im Medical Yoga
und freitags von 11.00 h -12.15 für eine Vinyasa-Einheit
Da das Jivana Yoga immer noch nicht die Lehrer im Stundenplan nennt, behelfe ich mir auf diesem Weg.
Und im MG-Fitness mittwochs von 17.30h – 18.30h.
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