Alles verkehrt
Jetzt war ich diese Woche doch beim Orthopäden wegen meinem Fuß (ich hatte ja schon in einem vorangegangenen Beitrag erwähnt, dass es nicht wie geschmiert läuft, und ich das Gefühl habe, die Ferse reißt – und ohne Adho mukha svanasa, herabschauender Hund, sind meine Yogastunden nur ein halbe Sache). Die gute Nachricht: meine Plantarfaszie ist in Ordnung, der Fuß musste nicht amputiert werden, es ist lediglich eine Schleimbeutelentzündung (Schleimbeutel dürfte zu den hässlichsten Wörtern des deutschen Vokabulars zählen). Aber Entzündungen heilen ja …. irgendwann. Cortisonspritze rein, weil sämtliche „Müslifresser-Medikamente“ wie Globuli und Kräuterwickel, die ich mir bereits verordnet hatte, nicht zum Erfolg geführt hatten. Jetzt heißt es mal wieder abwarten. Das Leben hat anscheinend den Plan, dass ich Geduld lerne!
Dass Ärzte immer mehr unter Zeitdruck arbeiten müssen, merkt man deutlich. Trotzdem konnte ich mein Vorhaben verwirklichen, mein doch humorvolles Exemplar von Arzt auch noch auf meinen gefühlten „Tumor“ im Nacken anzusprechen. Ich habe mich an meine Nackenverspannungen ja längst gewöhnt – und wer hat heutzutage schon keine. Außerdem kann ich ja auch nicht die ganze Zeit rumjammern. Ich würde mich selbst über mich langweilen! Jammern ist gefühlt der Volkssport Nummer eins, und ich kann unmöglich anderen zumuten, was ich selbst abstoßend finde. Dabei tut es ja schon auch ganz gut zu hören, dass andere auch hier und da mal straucheln im Leben oder sogar ähnliche Problemchen haben wie man selbst, und man mit diesen nicht allein auf der Welt ist. Doch leider nimmt Jammern eine Eigendynamik an. Der Betroffene spinnt sich ein und sieht nicht mehr über seinen Tellerrand heraus. Und es heißt doch so schön: „Mein Unglück könnte jemand anderes Glück sein“. Es scheint auch, dass ein wahrer Wettbewerb um den wohl ärmsten Menschen Deutschlands entfacht ist. Trotzdem höre ich mir gern Geschichten rund um die Zipperlein und Wehwehs an, und wenn man genau hinhört, liegt der Hund ja meist auch ganz woanders begraben. Aber den einen oder anderen Jammerlappen würde ihn doch zu gerne auf eine höhere Aussichtsplattform hieven und ihn, seinen Zustand von dort aus neu beurteilen lassen.
Räusper, aber zurück zu meiner mittlerweile eigroßen und harten Geschwulst im Nacken: auch der Arzt konnte das Ding ertasten und meine letzten Zweifel, dass ich vielleicht doch ein Hypochonder bin, zerstreuen. Ein Röntgenbild der Halswirbelsäule legte offen, dass ich wohl eine Kyphose (Krümmung der Wirbelsäule nach hinten) habe, wo eigentlich eine Lordose (Krümmung der Wirbelsäule nach innen) hingehört. Nun habe ich schwarz auf weiß, dass ich verkehrt bin. Nicht normal! Endlich habe ich es mit Siegel. Was für eine Erleichterung! Wegen meinem Fuß bin ich zum Arzt, mit sooo einem Hals kam ich wieder raus.
Yogis nennen die Energiekanäle in unserem Körper „Nadis“. Es gibt rund 72.000 davon. Diese Nadis gibt es in fast allen Kulturen, vielleicht mit anderen Stückzahlen und unter anderem Namen. Aber die Akupunktur-Methode arbeitet genau damit. Unsere wichtigste Nadi verläuft der Wirbelsäule entlang und hat den klangvollen Namen Sushumna Nadi. Die Energie steigt die Sushmna Nadi empor entlang der Chakren. (Das wird sicher mal ein eigener Blogbeitrag. Wenn mich nämlich irgendetwas an Yogalektüre nervt, ist es, dass man oft vom Regen in die Traufe kommt – verdauliche, kleine Portiönchen werden einem selten dargereicht. Vor lauter neuen, fremden Begriffen ist das kleine Verstandene schnell wieder entschwunden, und man sieht sich nur noch mit „Bahnhof“ konfrontiert). Die Energie im oberen Stockwerk kann erleuchtete Momente bescheren. Aber mit einem eingebauten Staudamm im Nacken dürfte mir die Erleuchtung verwehrt bleiben. Hoffentlich bekommt mein zukünftiger Physiotherapeut mit Hammer und Meißel wieder eine schöne Form rein und ein mein Kanal öffnet sich. Wer weiß, was dann passiert? Ich erwarte, dass sich aus mir ein glühender Lavastrom ergießt. Bis dahin bin ich aber verkehrt herum, und singe mir das Mantra vor: „Ein Geisterfahrer? – Hunderte!!!“
Apropos Verkehrtsein. Kennt Ihr das Gefühl, komplett deplatziert zu sein auf dieser Welt? Schon als Jugendliche dachte ich manchmal, was ist, wenn ich behindert bin und andere sind nur aus Höflichkeit nett zu mir, um mir ein gutes Gefühl zu geben? Oder, was ist, wenn ich gar nicht in Wirklichkeit lebe, sondern mir das Leben nur einbilde? Wozu dann die ganzen Mühen? Wenn ich mir mein Leben nur zusammenphantasiere, müsste ich doch auch jederzeit einen Ausgang finden und das Leben komplett neu kreieren können. Mein Leben stellte ich regelmäßig im Physikunterricht auf die Probe. Statt an meiner Klassenarbeit weiterzuschreiben und Zeit damit zu verschwenden, über die Frage nachzudenken, mit welcher Geschwindigkeit und aus welchem Winkel wohl ein Dachziegel meinen Kopf trifft, lag meine Hoffnung doch eher darin, dass der liebe Gott sicherlich gleich einen Probe-Feueralarm auslösen wird. Es musste jede Sekunde passieren. An den lieben Gott hatte ich eigentlich schon längst nicht mehr geglaubt, aber im Schützengraben trifft er jeden wieder. Eine Physikarbeit ist definitiv nah dran am Schützengraben. Gott sah das aber anders – dem war mein Gejammer wohl auch zuviel geworden. Wer hat denn schon auf dieser Welt das Privileg, Physik zu lernen? Zu dieser Einsicht bin ich allerdings zu spät gekommen. Und nachdem Gott streikte, oder es ihn auch gar nicht gab, oder nicht so wie ich ihn mir zusammenreimte, beamte ich mich dann einfach in andere Welten. Es war schön beim Fliegen! Die leider funktionierende Schulglocke setzte meinem Fliegen jedoch ein jähes Ende, und die Fünf minus in Physik meinem weiteren Schülerdasein (Physik war nicht das einzige Fach, wenn auch das überflüssigste).
Aber bis heute denke ich manchmal oder sogar immer öfter, ob ich es bin, die da im Spiegel reflektiert wird. Gibt es mich so, wie ich mich sehe? Wie sehen mich andere und sehen sie mich überhaupt? Was ist wahr und real? Ehrlich gesagt schlummert in mir die Hoffnung, dass es anderen auch so geht – auch wenn keiner darüber spricht und es ja wieder mal das Unnormale repräsentiert. „Ja, Kind, du musst zur Schule … ja, Kind, du musst arbeiten … willst Du den anderen nicht mal beweisen, dass Du gute Noten schrieben kannst? … Du kannst nicht immer nur Spaß haben im Leben! … So ist das Leben halt.“ Ist das normal? „Normal“ ist doch allenfalls eine Einstellung an der Waschmaschine!
Und so schleppt jeder Mensch sein eigenes Wahrheitspäckchen mit sich herum. Herauszufinden, wie wir wirklich gedacht sind von Natur aus, das ist eine Reise – eine Reise, die viele Mauerdurchbrüche erfordert. Das bedeutet Arbeit und verlangt Geduld. Es ist definiertes Ziel im Yoga. Von außen nach innen gehen, zurückgehen. Was passiert mit uns, wenn all unsere Konditionierungen abfallen? Unserem Leben haben wir bisher Sinn eingehaucht, Leistung zu erbringen, Erfolg und Geld hinterherzujagen. Und um zu spüren, dass es uns überhaupt gibt, definieren wir uns durch Sachanhäufungen. Unsere Gesellschaft belohnt auch genau diese Äußerlichkeiten, was uns immer wacker bei der Stange hält. In diesem ganzen Getöse ist es gut zu wissen, dass man sich auch in das Auge des Sturms verziehen kann – dahin, wo absolute Windstille herrscht. So nah wie man sich selbst kommen kann.
Im Yoga arbeiten wir uns Hülle um Hülle nach innen vor. Diese Hüllen nennt man Koshas. Es gibt fünf Stück davon:
- Die erste Hülle ist, das was wir sehen – der grobstoffliche Mensch, der Nahrung braucht: Annamaya Kosha,
- Eine Hülle weiter darunter siedelt sich die Energiehülle an, die Luft benötigt: Pranamaya Kosha
- Dann kommt die Hülle, die unsere Gedanken ausmacht (oder mich während des Physikunterrichts im Kopf lieber unter dem Baum im Feld sitzen lässt). Diese wurde Manomaya Kosha getauft. (Meine fantastische Lehrerin Nicole Riedinger hat mir dazu die Eselsbücke schlechthin verraten: Mannomann! Wie oft denken wir „Mannomann“ – da sind wir von Manomaya Kosha, also dem Mentalkörper, nicht weit entfernt. Auch wenn die eigentliche Sanskritwurzel Manas, der Geist, bedeutet.
- Darunter liegend kommt die Vijnanamaya Kosha, die für Weisheit und Intellekt steht.
- Die letzte Hülle nennt sich Anandamaya Kosha, Glückseligkeit. Hier sind wir bereits zur Erkenntnis gelangt, dass wir vollkommen sind. Wir machen uns keine Sorgen mehr.Im Kern, unter allen Hüllen, offenbart sich dann das Selbst, der Atman! Endlich a Ruh! Frieden mit sich selbst, weg mit allem materiellen Ballast, unsterblich, eins mit allen und von Glück durchtränkt, losgelöst vom Ego! Die Reise ins Innere ist das Ticket der Arbeit wert. Es ist Arbeit an uns und für uns. Vielleicht erreichen wir auch niemals das Ziel oder verweilen dort nur Bruchteile für Sekunden. Aber es immer wieder auch nur zu versuchen, gibt uns schon eine Idee davon, und lässt uns uns neu konditionieren – zum Selbst! Wir sind nicht das, was wir glauben zu sein!
Mein Buchtipp: Stephen Cope, „Yoga – die Reise zu sich selbst.“ Ich wurde ja sozusagen gezwungen, dieses Buch zu lesen, und bin jetzt aber verdammt dankbar dafür (der Mensch, den ich meine, erkennt sich hier sicherlich wieder!) Das Buch liest sich schleppend an, gewinnt aber an Fahrt ab Kapitel 6. Und dann das Cover! Wer designt denn noch solche hässlichen Dinger? Aber: Don’t judge a book by its cover! Und ich will Yoga machen…
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