Barcelona
Viva Barcelona! Da freue ich mich schon seit Wochen drauf! Den besten Mann der Welt zieht es jedes Jahr zum Mobile World Congress nach Barcelona, und ich bin im Gepäck dabei. Es ist ja meist ein Ferienapartment nötig (über Hotelzimmer in Barcelona zur Messezeit munkelt man, dass diese nicht mal Fenster haben, wenn sie bezahlbar sein sollen), und mit Einsatz weniger Urlaubstage kann ich ein paar erste Sonnenstrahlen einfangen. Im Februar bin ich nämlich längst überfällig und lichtdurstig.
Barcelona war nicht gerade die Liebe auf den ersten Blick. Die engen Gassen waren mir zu düster, die Strandverkäufer zu aufdringlich und die Menschen zu laut. Für Barcelona stehen auch Antoni Gaudí und das Modelabel „Desigual“ Pate. Unumstritten war Gaudí seiner Zeit weit voraus und erschuf mit der Natur als Vorlage eine Architektur, wie ich mir damals als Kind ausmalte, dass die Bauten in der Unendlichen Geschichte von Michael Ende aussehen würden (bis die Verfilmung des Buches meinen Phantasiewelten ein jähes Ende bereitete). Und das Modelabel „Desigual“ zeichnet sich dadurch aus, dass sich wilde Muster innerhalb eines Kleidungsstücks dicht aufeinander folgen und zwischendrin noch Applikationen glitzern. Ein buntes Tuch, eine Kette oder ein beliebiges Liebhaberstück würden gänzlich ersaufen in den Stoffbahnen. Und so überfordern mich sowohl Gaudí als auch Desigiual mit ihrer Fülle. Beide rauben mir Freiheit, Raum und Luft, noch selbst frei gestalten zu können. Barcelona tat das als ganze Stadt anfangs auch.
Aber ich habe mittlerweile die Sonne gefunden. Am liebsten habe ich sie auf dem Berg Montjuïc. Dort oben ist alles lichtdurchflutet, und man kann auftanken. Eine botanische Gartenanlage folgt der nächsten, um das Castell de Montjuïc führt ein Weg mit einem herrlichen Blick aufs Meer. Außerdem gibt ein Museum zum großartigen Künstler Joan Miró, das mit heller Bauhaus-Architektur begeistert, und überall liegt einem die Stadt mit ihren glitzernden und funkeldenden Dächern im Sonnenlicht zu Füßen. Hier oben lässt es sich für mich am allerbesten aushalten, aber auch downtown werde ich immer mehr fündig, und alt und neu sieht man sich überall die Hand reichen.
Ich konnte mich auf meinen Barcelona-Trip also nur freuen. Aber dann kam er, mein Lehrmeister! Die Schleimbeutelentzündung, die mich bisweilen nur im Yoga hinderte, ausgiebig meine Asanas an meinen Grenzen auszukosten, war jetzt schon beim puren Laufen ein Hindernis. Reichte es nicht, wie ich mich der Sache bereits annahm? Ein Arzt-, ein Orthopäden- und ein Physiotherapeutenbesuch, eine Kortisonspritze, eine Strombehandlung, Vitaminpräparate, Kurkuma, Manukahonig, Enzyme, verschiedenste Wickel und Salben, die meine Haut zu Pergamentpapier ausgedünnt haben? Gefühlt müsste ich Hauptaktionär einer Apotheke sein. Habe ich nicht bereits viel Geld, Zeit und Ausfmerksamkeit diesem Schleimbeutel geschenkt? Was wollte er denn noch? Mich brechen? Mich noch tiefer in die Knie zwingen? Wo waren nur meine Grenzen? Geduld einzufordern wäre der günstigste Fall – zu dieser schon schmerzlichen Erkenntnis bin ich gekommen. Bisher war ich auch lediglich genervt, konnte aber den Abstand finden, mich selbst nicht allzu ernst zu nehmen – das Ding musste ja irgendwann mal heilen. Nachdem die letzten Tage sich aber trotz intensiver Pflege eher gegenteilig entwickelten, fing Angst an zu köcheln und auch eine brodelnde Woge hochzuwerfen. Erste Gedanken, was, wenn es doch nicht mehr gut werden würde?
Bis jetzt war ich immer gut zu Fuß unterwegs und bei Städtetrips wie Barcelona werden pro Tag zweistellig Kilometer aufsummiert. Angstfrei konnte ich mich bis jetzt treiben lassen, mich verirren, und wusste immer, dass egal wie weit ich mich entfernt hatte, zu Fuß für mich alles möglich ist. Jetzt konnte ich nicht mal mehr richtig abrollen, aus lauter Angst, zuviel Zugkraft auf meine Ferse zu geben. Ein tapsiges, ganzflächiges Aufstapfen wie ein Bär oder ein trotziges Kind klatschte bei jedem Schritt auf den Asphalt. Von einer Rolltreppe wurde auf keinen Fall zu früh ein Abgang versucht, um ja keinen Schritt zu lang werden zu lassen. Und überhaupt, auf einmal waren Rolltreppen ganz toll für mich. Für die anderen Menschen übrigens auch: vor Rolltreppen bildetet sich immer eine Schlange, wohingegen die nebenstehende Treppe freie Bahn bot. Vermutlich bin ich nicht die einzige Fußkranke. Ich hatte immer die Vorstellung, der Alterungsprozeß würde gemächlich seinen Lauf nehmen – wenn er gnädig wäre, so langsam, dass es mir nicht auffiele. Aber plötzlich steckte ich mittendrin. Ich sah nicht mehr ältere Menschen um mich herum, ich war selbst älterer Mensch.
Für Menschen, deren Blicke mir zu sagen schienen, dass sie gerne sitzen würden, stand ich natürlich immer auf, um ihnen den Sitzplatz anzubieten. Die Rolle des Gebers hat mir ehrlich gesagt gefallen, musste der andere Mensch doch interagieren und sich bedanken, freundlich lächeln oder zunicken. Das entsprach meiner Erwartungshaltung. Wie egoistisch, Handeln mit Erwartungshaltung! Wie ein dicker Banker, der mal einen Cent in den Hut eines Obdachlosen wirft, wie ein Promi, der spendet, um steuerbegünstigt zu werden. Jetzt wechselte ich die Seite und konnte mich einfühlen, wie es wäre, selbst angewiesen zu sein. Der Sieb der Alphatiere hat mich rausgeschmissen – einfach nicht mehr vorne mit dabei. Schnelles wendiges Vorwärtskommen, Durchschlängeln zur Bahn, Erster sein – nicht mehr möglich. Als Folge dessen bekommt man auch nicht den ersehnten Sitzplatz, wenn sich nicht gleich ganz die Bahntüren vor einem verschließen, und der Zug ohne einen abfährt. Und auf einmal sah ich auch die vielen anderen mit Gebrechen, ob alt und jung. Wieviele gab es, die hinkten und sich auf Krücken fortbewegten? War ich blind gewesen? Und apropos blind – was, wenn einem ein ganzer Sinn abhanden kommt? Mein Feind, der Schleimbeutel, wurde von Sekunde zu Sekunde zu einem kleineren Problem. Ist es das, was er mich lehren wollte? Mir die Augen öffnen, mich mitfühlender machen? Von vielen Yogastunden allein bekommt man schließlich kein gutes Herz. Man muss schon sein ganzes Leben integrieren. Auflehnen und nicht akzeptieren kostet sehr viel Kraft. Annehmen und sich dem Fluß des Lebens hinzugeben scheint energiesparender zu sein. Der Schleimbeutel hatte vielleicht gar nicht vor, mich zu ärgern, sondern mich zu beschenken. Ich werde wohl noch etwas daran arbeiten müssen, in Liebe und Dankbarkeit zu meinem Schleimbeutel aufzugehen. Ab sofort gehört er aber zu mir, und ich werde nicht mehr in der dritten Person über ihn sprechen.
Meine Lebensfreude wuchs aber mit dieser Erkenntnis wieder an. Das Wetter in Barcelona war in diesem Jahr nicht himmelhochjauchzend, es war sogar regelrecht kalt. Das Apartment roch nach abgestandenen Zigarettenrauch. Ich zerfloss für einige Stunden in Selbstmitleid. Nicole, meine Yin-Yogalehrerin, Ihr erinnert Euch, lag selbst mit Grippe im Bett und roch den Braten aus der Ferne. Sie baute zu mir eine Tele-Seelsorge-Standleitung auf. Sie brachte mich auf die Idee, mit Raumduft und Räucherstäbchen dem Zigarettengestank den Garaus zu machen. Dank ihr bewegte ich mich überhaupt draußen, und schließlich und letztendlich ging ich sogar ins Yoga. Schon letztes Jahr gab mir Elke, eine der begnadetsten Jivamukti-Lehrerinnen überhaupt – und das im kleinen Stuttgart –, den Tipp, dass ich doch in Barcelona das Jivamukti-Studio von Olga Oskarbina aufsuchen sollte. In einer Stadt, die nicht meine Sprache spricht, ist das Besuchen eine Yogastudios jedes Mal eine aufregende Sache für mich. Ob die Asanas tatsächlich weltweit allgemeingültig sind? Mit der aufgesetzten Lockerheit, dass mich ja doch niemand kennt, habe ich es aber gewagt.
Das Jivamukti-Studio in Barcelona befindet sich in einem Gebäude, das wohl den späten 70ern entsprungen ist. Frühe Sheraton-Hotel-Architektur nenne ich es. Ein braunes Gebäude mit achteckigen, bronze verspiegelten Fenstern ragt an der Metrostation „Urquinaona“ empor. Mit einem goldenen Aufzug geht es dann in den dritten Stock, und im Studio selbst haben sich das Mobilar und die Accessoires dem Aussenbau stilgetreu angepasst. Das Studio hätte eine ausgezeichnete Kulisse für den Film „American Hustle“ abgegeben.
So schräg es erschien, so sehr liebte ich es auf den ersten Blick. Und da ich das Studio schon aus dem letzten Jahr kannte, fieberte ich der Stunde mit Olga entgegen. Olga lebt, was sie lehrt. Liebevoll und sanftmütig ist ihr Unterrichtsstil, und sie legt größten Wert darauf, dass sie auch wirklich verstanden wird. Eine Mischung aus Waldfee und Squaw machen sie zu einem Blickmagneten. Ihr Stundenplan ist eine ganz neue Dimension aus meiner Sicht. Olga unterrichtet fast an jedem Tag zwei Mal. Ich kenne keinen anderen Yogalehrer, der das über einen längeren Zeitraum stemmt. Als Besucher für mich natürlich bequem, irgendeine Stunde mit ihr musste ich also treffen. Und wenn es nur ein einziges Mal wäre. Denn eigentlich sollte ich ja sowohl vom Sport als auch vom Yoga meine Hände, äh meine Füße, lassen. Aber einfach nur auf der Matte sitzen und Olgas Herzenswellen empfangen, hätte mich vollends erfüllt. Und außerdem ist die Asana-Praxis ja doch mit Bewegungen durchsetzt, die volles Bewusstsein erfordern. Also wusste ich ja, was ich sein lassen musste und was funktionierte. Alltagsbewegungen dagegen, wie einen Gegenstand von der Rückbank im Auto zu holen, den Laptop mit leicht gestreckter Vorbeuge zuzuklappen, ein schnelles Bücken, erinnern einen mit jähem Reiß-Schmerz viel eher daran, dass das „normale Leben“ einen noch nicht willkommen heißt, sondern dass erst die Schule der Annahme durchgangen werden muss. Und so tankte ich meine Jivamukti-Stunde und konnte mich Olgas Philosophie hingeben. Ihr Stunde behandelte zwischenmenschliche Beziehungen. Zwei Möglichkeiten sind gegeben: gehe oder bleibe! Wenn Du bleibst, dann mit ganzer Akzeptanz gegenüber dem anderen. Möchtest Du ihn ändern und auch nur ein kleines bisschen, kannst Du keinen Frieden finden. Der Zug ist abgefahren.
Ich danke all meinen Lehrern auf meiner Reise: Elke, Nicole, Olga, meinem Schleimbeutel (das letzte Mal in der dritten Person angesprochen) und dem besten Mann der Welt.
Wer übrigens Olga kennenlernen oder wiedersehen möchte, muss gar nicht so weit fahren. Sie kommt am Samstag, den 17.03.2018, und Sonntag, den 18.03.2018, nach Stuttgart ins Yoga13!
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