Finnland
Es gibt Länder, die hat man noch nie bereist und ist trotzdem schon in ihren Bann gezogen. So verhält es sich bei mir mit Finnland. Je weiter man in den Norden kommt, desto lässiger werden die Menschen. Natürlich bin ich in das Sommer-Finnland verliebt. Die Sonne strahlt durch die Bäume und lässt die üppige Seenlandschaft glitzern. Vermutlich hat jeder Finne sogar seinen eigenen See mit seinem eigenen Häuschen. Das ganze Land ist dünn besiedelt, und die Bevölkerung läuft nicht Gefahr, sich gegenseitig auf die Füße zu treten – jedem ist seine eigene Flügelspannweite sicher. Erst neulich fragte der beste Mann der Welt, ob ich denn alleine auf diesem Planeten leben möchte. Voraus ging meine verärgerte Gesichtsmimik, weil tatsächlich eine Handvoll Menschen es gewagt hat, mir in mein Fotomotiv rein zu dappen und dabei noch in aller Gemütsruhe Schwätzchen zu halten. Bis der Pulk wieder verschwunden wäre, würde die Sonne wohl untergegangen sein – das Fotomotiv konnte ich vergessen. Die Frage, ob ich alleine auf der Erde sein wollte, ging nicht spurlos an mir vorbei, und ich malte mir den Zustand aus. Dass ich mich dabei wohl fühlte, wage ich kaum auszusprechen – und darüber bin ich doch erschrocken. Tröstlicherweise durfte aber ein paar Minuten später ein Kreis Auserwählter sich den Planeten mit mir teilen.
Ganz bestimmt hätte ich auf die Frage anders reagiert, wenn ich auf finnischem Boden gestanden hätte. Nach tagelangem Herumirren durch einsame Landschaften muss die Freude riesig sein, einem Menschen wieder „Hallo“ sagen zu dürfen. Sicherlich tragen die harten Winter auch Schuld daran, dass die Finnen sehr gesellig sind. Es ist nicht selbstverständlich, aus seiner verschneiten Hütte so ohne weiteres rauszukommen. Wenn doch, heißt es: Treffpunkt „Sauna“. Auf kleinstem Raum betreiben die Finnen das Saunieren zu Bedingungen, die andere Nationen als Survival Training bezeichnen würden. Abgehärtet wird danach mit einem Sprung ins eiskalte Wasser beziehungsweise in das zuvor freigeschlagene Loch im Eissee. Während des Saunagangs oder auch beim Baden werden Verträge auf höchster politischer Ebene unterschrieben – eine im nackigen Zustand erarbeitete Vertrauensbasis ist einfach unerschütterlich, felsenfest und hält lebenslang.
Die finnische Musik kann im Gegensatz zu der guten nordischen Laune recht düster sein, und auch das Sonnenlicht bleibt gerne aus und die Winter sind lang und kalt – fast wie bei uns dieses Jahr. Die Selbstmordrate ist aufgrund des Vitamin-D-Mangels nicht unerheblich. Aber die Finnen wissen sich zu helfen. Sie halten gegen. Die „Leningrad Cowboys“ müssen einfach gute Laune machen. Auch sind alle uns aus Finnland bekannten Labels von Fröhlichkeit geprägt. Großblumige Drucke von Marimekko. Schlichte Formen, jedoch bunte Farben von Ittala. Und auch die Kinderbuchserie „Moomins“ kommt aus dem Norden. Praktisch geht es bei den Finnen auch zu: sie haben die Geschirrabtropfvorrichtung erfunden. Diese weiß man erst zu schätzen, wenn sie fehlt. Und auch das beliebte Nokia-Handy wird gerade wieder zu Leben erweckt, zu schmerzhaft war wohl die jahrelange Entbehrung. Jetzt in knallgelb erhältlich, längst nicht mehr in finnischer Hand, aber: wer hat’s erfunden? Zu Midsommer schmücken die Mädchen ihre Häupter mit Blumenkränzen und tanzen über die Wiesen. Nachts kommen übrigens die Trolle aus ihren Wäldern und baden in den vielen Seen ihre kleinen haarigen Körper – also spätestens ein paar Vodka-Gläser später. Das alles ist jedenfalls das Finnland, wie ich es mir vorstelle. Wie gerne möchte ich dort mal einen Sommer verbringen.
Was aber hat Finnland mit Yoga zu tun? Die Auflösung heißt Mikaela. Und hier knüpfe ich weiter an meine Reihe unsagbar herausragender Yogalehrer an. Mikaela ist Finnin, gestrandet hier in Stuttgart, und zum Glück geblieben. Mikaela verfügt noch nicht einmal über diese jahrelange Erfahrung im Unterrichten – aber merken tut das niemand. Nur ich weiß es, weil sie ja auch bis erst vor kurzem selbst noch Schülerin war – ihre Matte hatte immer den einen festen Parkplatz unter den orientalischen Lampen im Studio. Ich wechselte monatelang kein Wort mit ihr und beobachtete sie nur – sie schien unnahbar zu sein, wie eine Eisprinzessin. Erst eine Partnerübung brachte uns zusammen, und sie konnte mich als erste ausgezeichnet in den Kopfstand leiten. Überhaupt, noch nie konnte ich bei einem Yogaschüler wie bei ihr so schnell Fortschritte sehen. Das Geheimnis lag wohl darin, niemals zu jammern, immer wieder zu probieren, an sich selbst zu glauben und einfach: machen! Mikaela war der Schwamm, der aufsog – genau das, was sich Lehrer wünschen. Und schneller als man schauen konnte, war sie der Lehrer, wechselte die Seiten und die Perspektive. Etliche Zusatzzertifikate reihen sich um ihre Yogalehrerausbildung. Was sie letztendlich zu Höchstleistungen treibt, ist ihr Wissensdurst. Eine Traumlehrerin ist aus ihr geworden. Jeder Unterricht von ihr ist mit Liebe vorbereitet. Keine Stunde gleicht der anderen. Aus jeder konnte ich neues Wissen ziehen, und sie gab es immer gerne. Punktgenau hat sie mich in Asanas geführt, bei denen meine erste Reaktion war, „ach, geht doch eh nicht bei mir“ und „kann ich nicht“ – ich konnte doch! Nie perfekt, aber den ersten Schritt vom Weg machend. Gut, Mikaelas Stunden sind sicher die kraftvollsten unter allen mir bekannten. Bärenkräfte oder die berühmten Finnen-Kräfte sind gefragt! Aber nur am Gefordertsein kann man auch wachsen.
Mikaela lehrte mich zuletzt das Wort „Sisu“. Das ist kein Sanskrit-Begriff, jedoch ein Wort, das sehr wohl seine Berechtigung im Yoga-Wortschatz findet. Sisu ist den Finnen angeboren. Laut Wikipedia ist das Wort selbst unübersetzbar. Es ist vielleicht am ehesten mit mentaler Kraft zu umschreiben. Es ist genau das, was Mikaela vorgemacht hat, als sie selbst Schülerin war: niemals aufgeben, beharrlich und mutig sein, aber auch Lust haben. Haben das nur die Finnen von Natur aus oder ist uns diese Gabe in unserem Schulsystem irgendwo verlorengegangen? Ganz bestimmt ist uns das Glück, Sisu zu erwerben, auch gegönnt. Durch Beobachten, an sich selbst glauben – aber vielleicht muss der Mond auch im richtigen Winkel stehen. Einen Weg für Sisu wird es immer und für jeden geben!
Mikaela war übrigens bis vor kurzem noch schwanger, was sie aber nicht davon abhielt, noch bis eine Woche vor der Geburt Yoga zu unterrichten. Wer dachte, da steht eine schwangere Frau, die langsam, gemütlich und vorsichtig unterrichtet, auf liebevolle Muttergefühle programmiert ist und der Stunde nun einen sanfteren Ablauf gibt, lag falsch. Eher traf die Regel zu: zwei Leben, doppelte Kraft. Normal menschlich ist das nicht, aber finnisch. Sisu!
Das Bild eines Wikinger-Kraftprotzes stimmt übrigens nicht, falls das jetzt jemand dachte. Mikaela ist schön wie eine Eisblume und warmherzig und strahlend wie eine Sonnenblume. Und selbst wenn nicht alles in ihrem Unterricht umzusetzen gelingt, reicht es immer für laute Lacher.
Mikaela trägt ihr Kind seit kurzem nicht mehr in ihrem Körper, sondern in ihren Armen. Meiner Einschätzung nach ist Mikaela unstoppable – also wird es wohl nicht mehr lange dauern, bis sie im Jivana oder sonstwo in Stuttgart wieder unterrichtet.
Wie sehr ich mich freue!
Erstmalig habe ich übrigens nicht eigene Fotos verwendet – mir fehlt ja noch mein finnischer Sommer. Die Fotos habe ich von Mikaela zur Verfügung gestellt bekommen und das erste Foto im Text ist von meinem Mann, der schon ein paar finnische Sommertage genießen durfte.
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