Die Kriyas – Reinigung bis in die letzte Faser
Beinahe hätte ich vergessen, wie es geht, sich selbst zu motivieren und zu begeistern.
Jetzt musste ich in einem Yogamodul erst wieder Hilfsmittel angereicht bekommen – und siehe da, ich springe morgens wie eine Rakete aus dem Bett. Zuvor lag ich wie ein Zementsack noch in den Federn, bis endlich der Duft von Kaffee meine Nase erreichte und dann der kleine Zeh als erstes Körperteil entschied sich zu bewegen.
Yoga und Ayurveda zählen sowohl beim Menschen als auch bei Nahrungsmitteln drei Qualitäten auf, die Gunas. Da gibt es Tamas: das Schwere und Dunkle, Rajas: das Feurige und Schnelle, und Sattva: das Leichte und Ausgeglichene. Ohne jetzt weiter darauf einzugehen (ich hebe es mir für einen späteren Beitrag auf), bis vor kurzem war ich der fleischgewordenen Tamas (oder wie ich es sage: der tasmanische Teufel).
Nachdem der Körper schwerfällig dem kleinen Zeh beim Aufstehen gefolgt ist, wurde das Radio aufgedreht, ein circa zwanzig Jahre altes wasserfestes Modell für das Badezimmer, das der Nostalgie wegen aufgehoben wird. Ein einziger Sender lässt sich einstellen. Die Musik war schon immer entsetzlich, langweilig und immer wieder gleich, so dass man sogar schon sehnsüchtig auf Werbung gehofft hat. Das hätte mir zu denken geben sollen. Eine unbewusste morgendliche Gewohnheitsbewegung. Morgens „sich fertig machen“ für die Arbeit, offenbart sich ja schon in dem Wort „sich fertig machen“. Dieser Zeitpunkt musste unbedingt rausgezögert werden, wenn ich mein Unterbewusstsein laut werden ließ. Also drehte ich eine Loopingschlaufe nach der nächsten, um der wirklichen To-Do-Liste aus dem Weg zu gehen. Die nächste Station, die ich ansteuerte, mitsamt der grauenhaften Mucke im Hintergrund, war der Laptop. Die Social-Media-Kanäle habe ich hoch und runter gespielt. Ich verstand die Kunst, so lange rumzubummeln bis sich alles auf den letzten Drücker verdichtet hatte: Was brauche ich für meine Arbeit? Hatte ich am Vortag einem Kollegen wieder mal etwas versprochen? Was brauche ich für meinen Sport am Abend? Wo steht wieder die Yogamatte rum? Und dass ich mein Mobiltelefon, die Sonnenbrille und meine Schlüssel suche, ist schon Standard. Die Frage, was ziehe ich an, lässt sich auch immer erst beantworten, wenn der ganze Kleiderschrankinhalt auf dem Boden liegt.
Nun habe ich kleine Veränderungen vorgenommen – minikleine, aber mit viel größerer Wirkung. Und ich lege morgens gleich los damit. So gurgle ich als erstes Kokosöl in meinem Mund und bekomme dabei schon ein klein wenig karibisches Feeling – das Gefühl von Karibik-Urlaub, und der Tag hat gewonnen. Das mache ich für circa ein bis zwei Minuten, die Fortgeschrittenen machen es sogar bis zu zwanzig Minuten. Das Öl, klassisch wäre eigentlich Sesamöl, darf unter keinen Umständen verschluckt werden. Warum? Weil sich so viele Toxine an das Öl binden, dass ein Verschlucken wohl kontraproduktiv wäre. Das Öl wird aus diesem Grund auch nicht in den Ausguss oder in die Toilette gespuckt, sondern in ein Taschentuch, einfach der Umwelt zuliebe. Und der Ausguss, der durch sich verhärtendes Kokosöl verstopfen könnte, dankt es auch.
Die nächste Maßnahme ist der Zungenschaber. Hatte ich bisher noch nie gemacht, meine Zunge kam mir rosig und belagsfrei vor – aber es kann ja nicht schaden, sich auch von den Mirkoabfällen zu befreien.
Vor dem morgendlichen Duschen wird mein Körper noch mit der Bürste geschrubbt. Warum ich das nicht zuvor gemacht habe, ist mir ein Rätsel. Die Haut wird definitiv weich, die Durchblutung gibt mir das Gefühl, menschenähnlich zu werden. Und wenn man sich selbst eine Massage angedeihen lassen kann, kommt mir das wie ein gute Idee vor.
Nicht täglich, aber mindestens jeden vierten Tag, packt es mich, und ich spüle meine Nase mit Salzwasser durch. Noch hat mich der Heuschnupfen nicht erwischt, aber man kann ja nie wissen. Und spätestens mit dem Bewusstsein, mit Wohnort Stuttgart im Epizentrum des Feinstaubs zu leben, ist ein inneres Abstauben überaus förderlich.
Wir nehmen so viele Gifte tagtäglich zu uns, über die Nahrung, über die Luft, Kosmetik – und auch über schlechte Gedanken. Unser armer Körper wird nicht arbeitslos, da können wir ihm mit kleinen Mitteln „unter die Arme greifen“ und Hilfestellung leisten. Genannt werden diese Maßnahmen Kriyas (Handlungen und Taten – gemeint sind Reinigungspraktiken), die Shatkriyas (shat = sechs) können zu einem täglichen Ritual werden.
Und da es noch mehr gibt als ich in meinen Alltag einbaue, seien hier alle aufgezählt:
1. Neti: die Nasenreinigung. Von beiden Netis ist die mit Wasser, Jala-Neti, sicherlich die angenehmere. Lauwarmes Wasser und einem halben Teelöffel Salz in einem Kännchen vermixen, den Kopf um 45 Grad neigen, das Wasser durch das eine Nasenloch fließen lassen und am anderen Nasenloch wieder austreten lassen. Für mich als Anfänger klappt das noch nicht so gut, einiges gelangt in den Rachen, aber ich finde es nicht schlimm. Beim Urlaub am Meer vermittelt es auch ein Gefühl von Freiheit, wenn einen die Meereswelle trifft. Danach ist das andere Nasenloch dran. Viren, Pollen und Schleim finden auf diese Weise kein gemütliches Plätzchen mehr in unserem Körper. Die zweite Neti-Variante funktioniert mit einem dünnen Plastikschlauch, genannt Sutra-Neti, der durch die Nase in den Mund geführt wird. Allein der Gedanke lässt mich bis ins Knochenmark erschauern.
2. Kapalabhati: eine besonders wirksame Atemtechnik, um Giftstoffe aus den Lungen loszuwerden. Mit der Ausatmung wird der Bauch ruckartig nach innen gezogen. Beobachtet man andere bei Kapalabhati, sieht es aus, als hätten sie einen Presslufthammer verschluckt. Auf die Einatmung wird keinen Wert gelegt, sie kommt ja automatisch. Kapalabhati bedeutet leuchtender Schädel und so fühlt es sich auch hinterher an! Und außer dass Giftstoffe den Weg nach aussen finden, ist es auch die Sauerstoffdusche schlechthin. Schwangere sollten es unter keinen Umständen ausprobieren. Diese Atemtechnik macht mir Spaß, muss ich doch keinen Atem für längere Zeit halten.
3. Trataka: die Augen- und Tränendrüsenreinigung. Regungslos ohne Wimperngeklimper starrt man auf eine Kerzenflamme in circa in einem Meter Abstand. Starren und Stieren bis es läuft. Empfohlen wird Gruppen-Heulen. Es sollte niemand machen, der unter zu hohen Augendruck leidet und Gefahr läuft, grünen Star zu bekommen. Deshalb nichts für mich.
4. Dhauti: die Reinigung der Verdauung. Und da diese im Mund anfängt, fängt dort auch die Reinigung an. Über Nacht hatten unsere Organe endlich mal Zeit, die Giftstoffe in den Außenbezirken des Körpers abzulegen. „Mundgerecht“, sodass wir noch den letzten Handgriff verrichten müssen. Wie oben erwähnt gehört dazu, dass der Zungenbelag mit einem Schaber entfernt wird. Aber nur ganz oberflächlich und sachte, sonst hobelt man die Geschmacksknospen ab. Und es wäre doch jammerschade, wenn uns der Rosenkohl auf einmal schmecken würde. Das Zungenreinigen wird Jihva Dhauti gennant. Als nächstes kommt das Ölziehen, Gandusha (ob unser Wort „Dusche“ davon abstammt? – so kann ich es mir jedenfalls merken). Es funktionieren sämtliche kaltgepressten Öle. Mein Favorit ist ganz klar das Kokosöl.
Das Dhanda Dhauti entspricht unserem Zähneputzen. Da die Kriyas aber bereits in der Hatha Yoga Pradipika empfohlen wurden, die im 14 Jahrhundert geschrieben wurde, gab es vermutlich noch keine Zahnbürste – schon gar nicht batterie- oder strombetriebene. Die Inder haben einen Zweig vom Niembaum genommen. Dieser Niembaum scheint eine Wunderpflanze zu sein.
Das Dhauti gelangt nun in tiefere Regionen. Mit Hrid Dhauti oder auch Vamana Dhauti wird die Speiseröhre und der Magen gereinigt. Ein circa drei Meter langes, befeuchtets Tuch oder eine Mullbinde wird verschluckt. Hilfreich ist es, das andere Ende außerhalb des Körpers gut festzuhalten. Als Anfänger tastet man sich natürlich langsam vor. Ehrlich gesagt zweifle ich, ob ich in dieser Disziplin überhaupt die Anfängerstufe schaffe – meine Experimentierfreude kennt Grenzen. Auch Kunjar Kriya gehört zu den Dhautis: Ein bis zwei Liter lauwarmes Salzwasser werden getrunken und wieder erbrochen. Danach seien die Schleimhäute wieder wie geschmiert.
5. Nauli: ist die Darmreinigung. Mir sind drei Yogalehrerinnen bekannt, die diese Kunst beherrschen. Es sieht irre aus. Wie beim Reh, das in die Scheinwerfer starrt, ist mein Blick gebannt auf die Bäuche der Könnerinnen. Am besten fängt man mit Kapalabhati an, in vorgebeugter Position mit Armen auf den Knien gestützt. Mit dem Ausatmen und leeren Lungen saugt man jetzt mit Unterdruck den Bauch ein. Bis zu diesem Punkt klappt es bei mir. Nun aber folgt, dass die Bauchmuskeln separiert werden. Vermutlich habe ich sie nicht. Allein durch das Erfühlen der Bauchmuskeln drückt sich mein Kehlverschluss so zusammen, dass ich mich beinahe selbst erdrossele. (Das Abschließen mit dem Leben ist übrigens gar nicht so unwahrscheinlich. Swami Nirmalananda, Guru der Jivamukti-Gründer, entschied sich, im erleuchten Zustand, ohne jegliche Krankheit zu haben, mit freiem Willen nach getaner Arbeit auf der Erde, sich von seiner menschlichen Hülle zu verabschieden. Die Kriyas waren seine Hilfsmittel dazu. Aber bestimmt hat er sich nicht an Nauli erdrosselt, sondern er hat die Kriyas beherrscht, genauso wie seinen Geist. Den Prozess des selbst gewollten Sterbens nennt man Prayopavesha. Selbstmord dagegen ist motiviert durch Wut, Verzweiflung, Enttäuschung und Traurigkeit).
Bei Nauli schleudern als nächstes die Bauchmuskeln wie eine Waschmaschine, und alle inneren Organe werden massiert, insbesondere Dünndarm, Leber und Milz. Es ist definitiv den Fortgeschrittenen vorbehalten. Aber üben darf jeder.
6. Basti: Zu guter Letzt muss ja der Einlauf übrig bleiben. Wenn ich an „Einlauf“ denke, fällt mir dazu zuerst ein, dass ein Mensch meine Handlung oder mich nicht gutheißt und das so kommuniziert. Hier geht es aber um die Enddarmspülung. Da ich auch dieses Terrain jungfräulich betrete, habe ich mir nie Gedanken gemacht, welchen Vorteil ein Einlauf haben könnte – eine Drehsitzhaltung in einer Yogastunde am Vorabend musste doch genug sein. Aber ein Einlauf mit Salzwasser oder auch Sesamöl spült wohl wirklich alles weg. Der Darm vollbringt Höchstleistungen, seine Zellen sind dem des Gehirns sehr ähnlich – aber der Darm ist in den meisten Fällen produktiver. Unser Gehirn löst sich selten von schwerem Ballast, dem Hin und Her, der Vergangenheit und der Zukunft, und nichts als Sorgen: der Nutzwert geht gegen Null. Der Darm hingegen liefert eindeutig Ergebnisse – ohne, dass wir mitbekommen, dass er viel darüber nachdenken müsste.
Viel vom Energiereservoir der Verdauung wird uns genommen, wenn wir krank sind. Damit die Schaltzentralen im Körper nicht allzu verwirrt werden, ist es besser, die Verdauung gar nicht erst anzuwerfen und Reste mit einer Darmspülung zu entfernen. Alle Krankheitsbekämpfer haben nun volle Arbeitskapazität für das Wesentliche. Man kann sich ausrechnen, dass so jeder Heilungsprozess schneller erledigt ist. Gleiches gilt fürs Fasten – der Körper kann sich ohne Umwege gleich an der Leber zu schaffen machen, gespeicherte Giftstoffe lösen und muss sich nicht mehr um eine zweite Baustelle kümmern.
Übrigens, meinen Kaffee mit Mandelmilch genieße ich morgens immer noch und glotze weiterhin in Social Media rein – Zeitverschwendung ist das nicht, ich bearbeite währenddessen meine Fußfaszie mit allem möglichen Material, das mir dafür in die Quere kommt. Nach meiner Schleimbeutelentzündung blieb mir der Klumpfuß übrig. Das Faszienmaterial hat sich zusammengezogen und sich zu hässlichen Beulen verhärtet. Immer noch ist in Adho Muka Svanasana ein Reißen von tausend Blitzen in der Ferse übrig. Aber so viel Liebe und Aufmerksamkeit, wie mein Teufelshuf bekommt, löst sich das sicherlich demnächst oder wenigstens irgendwann auf. Meine Zeit ist aber bis in die letzte Faser meines Körpers sinnvoll genutzt.
Der Yogablume sei Dank für viele angereichte Instrumente und Instruktionen zu den Kriyas – und ein bisschen mehr Lebensqualität für mich.
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